von Joachim Sohns

Wie Europa aussehen würde, wenn die Marktliberalen, Privatisierer und Sozialsparer – auch die von ganz rechts - ihre Träume verwirklichen könnten, kann man sich in Griechenland anschauen. In der Staatsschuldenkrise nach 2010 musste der Staat einerseits alles privatisieren, was verkauft werden konnte, und andererseits strenge Sparauflagen erfüllen, um Kredite zu erhalten und in der Europäischen Union bleiben zu können. Der Kahlschlag traf sämtliche soziale Bereiche. In der Folge sank Griechenlands Bruttosozialprodukt um ein Viertel, durch Kürzungen, Arbeitslosigkeit, Abbau von Gewerkschafts-, Streik- und Arbeitsrechten reduzierten sich die Einkommen um durchschnittlich ein Drittel. Der Verkehr, die Flughäfen, die Elektrizität, die Telekommunikation, die Banken, die Energie, die Häfen sind inzwischen an private Unternehmen vergeben worden, die Autobahnen werden gerade versteigert, und im Gesundheits- und Bildungswesen findet eine heftige Auseinandersetzung um Privatisierungspläne statt.

Abbau von Gesundheitsleistungen: Du musst privat bezahlen

Am schlimmsten waren die Folgen der Kürzungen für das griechische Gesundheitssystem. Eine der Vorgaben der EU-Kommission und der EU-Banker war die Reduzierung des Budgets im öffentlichen Gesundheitshaushalt – es wurde fast halbiert. Die deutsche Bundesregierung hatte an diesen „Strukturanpassungsmaßnahmen“ keinen geringen Anteil und war darüber hinaus im Gesundheitssystem federführend:  

Als sogenannter Domain Leader übernahm 2012 das damals FDP-geführte Bundesministerium für Gesundheit die Führungsrolle in gesundheitspolitischen Fragen des Memorandum of Understanding zwischen griechischer Regierung und europäischen Institutionen. Die staatlichen Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheit sanken in den Jahren 2008 bis 2013 jährlich durchschnittlich um 7,3 Prozent, während es in der EU insgesamt im gleichen Zeitraum ein jährliches Wachstum von 0,7 Prozent gab. 54 der 137 Krankenhäuser sowie zusätzlich 350 Polikliniken im ambulanten Sektor wurden geschlossen und 25.000 Stellen gestrichen, Tausende Betten abgebaut und die Gehälter der Angestellten um 30 Prozent gesenkt. Wie Hunderttausende andere gut ausgebildete Fachkräfte und Akademiker*innen wanderten auch viele Ärztinnen und Ärzte aus, weil sie in ihrer Heimat keine berufliche Zukunft sahen. Heute fehlt es in den verbliebenen Krankenhäusern an Personal, Betten, wichtiger Medizintechnik und Medikamenten. Lange Wartezeiten sind die Regel, die Notaufnahmen oft überfüllt. Fatal wirkte sich diese Sparpolitik in der Corona-Krise aus: Bei den zusätzlichen Verpflichtungen zu Gesundheitsausgaben der Regierungen pro Kopf für Covid 19 lag Griechenland an zweitletzter Stelle (s. Abb. 1). Da es an Intensivbetten und Fachpersonal mangelte, verstarben Menschen in normalen Krankenhausbetten, die einer Intensivbehandlung bedurft hätten.  

Quelle: OECD, Health at a Glance: Europe 2020: State of Health in the EU Cycle

Grundlegende Leistungen wurden drastisch eingeschränkt und die finanzielle Eigenbeteiligung der Patienten erhöht. Die privaten Zusatzkosten machten 2010 noch 28 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben aus, 2015 waren es bereits über 35 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland lagen die Selbstzahlungen 2015 bei 12,5 Prozent. 36,2% der Bevölkerung können sich lt. Jahresbericht des Griechischen Netzwerks zur Bekämpfung der Armut keine ärztliche Untersuchung oder Behandlung leisten. Hinzu kommen in Griechenland hohe Zuzahlungen für Medikamente, die bis zu 25 Prozent des Gesamtpreises betragen können. Viele Therapien und Behandlungen müssen seit 2011 aus eigener Tasche finanziert werden. Mehrere Medikamente für chronisch Kranke, die vorher ohne Zuzahlung erhältlich waren, sind seitdem kostenpflichtig. Immer weniger Kinder sind komplett geimpft, weil die Vorsorgeprogramme eingedampft wurden und somit viele Impfungen aus eigener Tasche finanziert werden müssen. Eine umfassende Impfung für ein Kind kostet etwa 1.200 Euro. 2020 mussten 35,2 % der stationären Behandlung und 49 % der Arzneimittelversorgung privat bezahlt werden, siehe Abb. 2 und 3: 

Quelle https://www.wip-pkv.de/fileadmin/DATEN/Dokumente/Studien_in_Buchform/WIP-2022-Kostenbeteiliigung-Wartezeiten-Leistungsumfang-Ein_europaeischer_Vergleich.pdf WIP-Analyse Februar 2022

Quelle https://www.wip-pkv.de/fileadmin/DATEN/Dokumente/Studien_in_Buchform/WIP-2022-Kostenbeteiliigung-Wartezeiten-Leistungsumfang-Ein_europaeischer_Vergleich.pdf WIP-Analyse Februar 2022

 Auch in der Entwicklung der Sterbe- und Geburtenraten zeigen sich die Auswirkungen der Krise. Während sich die Zahl der Todesfälle von etwa 109.000 im Jahr 2010 auf über 121.000 im Jahr 2015 erhöhte, gingen die Geburtenzahlen im selben Zeitraum von knapp 115.000 auf weniger als 92.000 zurück. 2022 war die Zahl der Todesfälle mit 140.801 fast doppelt so hoch wie die der Geburten.

 Privatisierung als Ausweg?

Wer Geld hat, bezahlt bei gesundheitlichen Problemen einen schnellen Termin in einer Praxis aus eigener Tasche und geht, wenn es schlimm ist, auf eigene Kosten in eine Privatklinik mit besserer Ausstattung und einer besseren Behandlung. Die Griechenland Zeitung berichtete am 18.10.23, in Edessa weise die Vereinigung der Krankenhausärzte darauf hin, dass zwischen 55 bis 65 Prozent der betreffenden Stellen in den staatlichen Krankenhäusern der Region nicht besetzt seien. Patienten seien deshalb häufig gezwungen, sich an private Gesundheitsunternehmen zu wenden, wenn sie behandelt werden möchten. Für die, die sich das nicht leisten können, preist nun die Regierung Mitsotakis als Ausweg aus der Misere die teilweise Privatisierung der staatlichen Krankenhäuser: Neuerdings dürfen dort beschäftigte Ärzte gleichzeitig eine Privatpraxis betreiben oder ihre Dienste auch privaten Kliniken, Labors usw. zur Verfügung stellen. Gleichzeitig haben Praxis-Ärzte das Recht, in Teilzeit im staatlichen Krankenhaus zu arbeiten. Nun könnten sie Behandlungen in ihrer „Freizeit“ unter Nutzung öffentlicher Einrichtungen durchführen und privat abrechnen. Denn es ist auch die Einrichtung so genannter „Abendpraxen“ vorgesehen. Die Patienten, die es sich leisten können, könnten dann für eine abendliche Operation bezahlen und so die lange Warteliste überspringen.
AthensLive Wire Newsletter kommentierte diese Entwicklung am 03.12.2022 so: „In Anbetracht der Tatsache, dass der griechische Nationale Gesundheitsdienst personell und finanziell stark unterbesetzt ist (Patienten stehen bereits stundenlang Schlange, um eine medizinische Versorgung zu erhalten, oder warten monatelang auf eine Operation oder werden sogar gebeten, ihre eigenen Medikamente mitzubringen, weil das Krankenhaus keine hat), versteht es sich von selbst, dass die Patienten nun indirekt zur Zahlung gedrängt werden, um bei der medizinischen Versorgung Vorrang zu haben.“ Gewerkschaftlich organisierte Krankenhausbeschäftigte protestierten mit Streiks und Demos gegen diese Entwicklung. Sie lehnen diese Privatisierung ab, „weil sie die Krise und Personalnot in den Krankenhäusern weiter vertieft“, und forderten im September 2022: „Gesundheit öffentlich und kostenlos für alle! Keine Kündigungen, dauerhafte Einstellungen!“
„Sollen ihre Gewinne frieren – und nicht wir! Raus mit Privatunternehmen und Börsen aus Bildung, Gesundheit, Strom und Wasser!“

Gab´s auch Positives?

Zwischenzeitlich war etwa ein Drittel der griechischen Bevölkerung ohne Krankenversicherung und damit de facto vom Zugang zum öffentlichen Gesundheitswesen ausgeschlossen. 2016 verlieh die damalige Syriza-Regierung griechischen Nicht-Versicherten das Anrecht auf kostenlose Behandlung in staatlichen Krankenhäusern – mit all den Einschränkungen des privaten Finanzierungsanteils und des Mangels. Für Migranten und Migrantinnen gilt dieses Recht allerdings nicht.