Neuer europäischer Imperialismus und Militärinterventionismus - (Helmut Rehbock, Oldenburg)

Die deutsche und die europäische Militärpolitik haben sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert, auch im Zusammenhang mit einem neuen europäischen Imperialismus. Dieser Aufsatz soll eine kurze Einführung in das Thema geben und dabei aktuelle Themen berücksichtigen. Zunächst geht es aber um den klassischen europäischen Imperialismus, mit dem dann der moderne Imperialismus verglichen wird.

Was bedeutet eigentlich „Imperialismus”? Eine sehr allgemeine Definition ist bei John Darwin, einem englischen Historiker zu finden:

„Imperialismus kann man als den Versuch definieren, anderen Gesellschaf­ten die Herrschaft eines Staates dadurch zu oktroyieren, dass sie in sein politisches, kulturelles und wirtschaftliches System eingegliedert werden.“ (S. 392)

In diesem allgemeinen Sinn gab es auch schon in vorkapitalistischen Gesellschaften Imperien wie das Imperium Romanum oder das Reich der Mongolen. Uns interessiert aber hier eher der Imperialismus auf der Grundlage der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Das aufstrebende Bürgertum im 18. und 19. Jahrhundert wollte offiziell durch Gewerbe, Handel und Industrie reich werden und nicht durch Eroberungen. Denn dies war bisher das Lebensziel des Adels gewesen, von dem das Bürgertum sich ab­grenzte. In Wirklichkeit war die Entstehung des Kapitalismus, die sogenannte ur­sprüngliche Akkumulation, aber untrennbar mit Raub und Betrug verbunden. Dazu gehörte vor allem die Enteignung von Bauern durch überhöhte Pachtzinsen oder durch Aufhebung von Nutzungsrechten an Gemeindeland. In beiden Fällen folgte die Ver­treibung vom Land und der Zwang zur Lohnarbeit.

Auch nach der Etablierung der kapitalistischen Produktionsweise konnte auf ungleichen Tausch, Betrug und Raub nicht verzichtet werden. Als wesentliches Motiv kann die Konkurrenz um eine möglichst hohe Profitrate angenommen werden, oder anders ausgedrückt: das Bestreben, der Tendenz zum Fall der Profitrate entgegen zu wirken. Viele der seit 1500 neu entdeckten Länder in Amerika, Afrika, Asien und Australien waren den Europäern mili­tärisch, politisch und technologisch unterlegen und konnten so zum Objekt von Aus­plünderung und Unterwerfung werden. Die betroffenen Völ­ker ver­armten dramatisch, die Handelsgesellschaften konnten sich extrem bereichern, ebenso die Machteliten der Eroberer­länder.

Ein zentrales Kennzeichen des alten Imperialismus war die Errichtung von Kolonien durch europäische Staaten in Amerika, Afrika, Australien und Asien. Das größte Imperium war das „British Empire”, aber auch Frankreich, Russland und andere Staaten betätigten sich als Imperialisten.

Deutschland war erst 1871 ein geeinter Staat geworden, kam also bei der Aufteilung der Erde unter den imperialistischen Mächten ziemlich spät. Immerhin konnte das deutsche Kaiserreich ab 1884 noch größere Landflächen in Afrika ergattern, das heutige Namibia (Südwest-Afrika), Tansania, Ruanda, Burundi, Togo und Kamerun. Hinzu kamen noch Gebiete in der Südsee und eine kleinere Fläche um die Stadt Tsingtao in China. Die Initiative zur Kolonisierung ging damals nicht von der kaiserlichen Regierung, sondern von Kaufleuten und Bankiers aus.

Nach dem 1. Weltkrieg wurden die deutschen Kolonien unter den Siegermächten aufge­teilt. Deutschland spielte als imperialistische Macht keine Rolle mehr, erst recht nicht nach dem 2. Weltkrieg. England und Frankreich hielten noch an ihren Kolonien fest. Deshalb konnte z. B. in Afrika erst sehr spät die Herr­schaft der europäischen Kolonial­mächte beendet werden.

Der Aufstieg der USA zur stärksten Militärmacht der Welt brachte eine neue Form des Imperialismus hervor. Eroberte Länder wurden keine Kolonien, sondern entweder Teil des Staatsgebiets wie Hawaii, Puerto Rico und mehrere Südseeinseln, oder Protek­torate mit eingeschränkter Selbstverwaltung wie die Philippinen – oder formal un­ab­hängige Staaten, die man indirekt beherrschte, z. B. Kuba von 1901 bis 1958. Nicht nur in Lateinamerika, sondern weltweit übte die USA ihre Macht durch willfährige Regierungen aus, die oft korrupt und diktatorisch waren.Sie ließ unerwünschte Regie­rungen durch Geheimdienst-Operationen stürzen (z. B. Iran 1953, Chile 1973) In eini­gen Fällen gab es auch offene militärische Interventionen mit fadenscheiniger Rechtfertigung (Vietnam bis 1975, Irak ab 2003). Die militärische Stärke wurde möglich durch die Dominanz der US-amerikanischen Wirtschaft in Form der fordistischen Massenproduktion. Auch das Konsummodell des „american way of life” übte welt­weit einen kulturellen Einfluss aus.

Die meisten Länder in West-Europa wurden nach 1945 zu Verbündeten der USA, weil sie allein der Konfrontation mit der UdSSR und ihren Bruderländern nicht gewachsen waren. Deshalb wurde 1949 die NATO gegründet. Militärische Unternehmungen westeuropäischer Länder gegen den Willen der US-Regierung hatten keine Chancen mehr. Das zeigte sich 1956, als die Regierungen Englands und Frank­reichs militärisch gegen Ägypten vorgingen, weil Nasser den Suezkanal verstaatlicht hatte. Die US-Regierung forderte das Ende der Militäraktionen, und so geschah es dann auch.

Nach dem Ende der Herrschaft der kommunistischen Parteien in Osteuropa und der Sowjetunion gab es eine Diskussion über die neuen Aufgaben der NATO. Eigentlich hätte die NATO massiv abrüsten können, denn ein Angriff durch die Nachfolgestaaten der Sowjetunion war extrem unwahrscheinlich geworden. Statt dessen wurden Rüstung und Einsatzpläne umgestellt auf militärische Interventionen außerhalb des NATO-Gebiets, im Militär-Jargon hieß das „out of area”. Dies wurde bereits 1999 auf Betreiben der USA beschlossen, auch von der damaligen Schröder-Fischer-Regierung. Im Gegenzug erreichten die Regierungen in Berlin und Paris, dass die EU eine eigene Militärmacht aufbauen und auch ohne Beteiligung der USA einsetzen konnte. Eine eigene europäische Armee sollte Schritt für Schritt aufgebaut werden. Realisiert wurden bisher mehrere multinationale Kampfgruppen, die in verschiedene Krisengebiete geschickt wurden. Außerdem wurden Rüstungsprojekte innerhalb der EU besser koordiniert und abgestimmt. Ebenfalls nach 1990 wurde das Gebiet der NATO nach Osten ausgedehnt; die meisten Staaten Osteuropas traten ihr bei.

Diese militärpolitische Entwicklung basiert auf den ökonomischen Interessen innerhalb der Europäischen Union, bzw. in den sie dominierenden Volkswirtschaften. Seit den 1970er Jahren hat sich der Kapitalismus stark verändert, vor allem unter dem Aspekt der Globalisierung. Die Glo­ba­lisierung in unserer Zeit unterscheidet sich deutlich von den Globalisierungspro­zessen im 19. Jahrhundert. Schon damals wurden weltweit Märkte verbunden, und der Zeitbedarf für den Fernhandel wurde durch die Erfindung von Eisenbahn und Dampfschiff enorm verringert. Nach Elmar Altvater ist die heutige Globalisierung „vor allem ein Prozess der ökonomischen Integration durch Deregulierung der Fi­nanzmärkte, Liberalisierung des Welthandels und Privatisierung von öffentlichen Gütern.” (S. 61) Der Nationalstaat ist nicht mehr der Bezugsrahmen für den Vergleich der Profitraten und des Ertrags von Kapitalanlagen. Die großen Unternehmen sehen sich jetzt im globalen Wettbewerb und sind bestrebt, ihren Marktwert, den Shareholdervalue, zu maximieren, um Anlegerkapital anzuziehen und dadurch mehr Geld für ihre Erhaltung und Expansion einsetzen zu können.

Damit wird staatliches Handeln aber nicht überflüssig, sondern neu bestimmt. Das störungsfreie Funktionieren des Weltmarkts im Sinne der mächtigsten Kapitalfraktionen wird durch politische Absprachen der Regierungen ermöglicht und, wenn das nicht ausreicht, auch mit militä­rischen Mitteln. „Die politischen und ökonomischen Eliten verlassen sich nicht mehr auf die geoökonomische Logik des Weltmarkts und der globalen Konkurrenz. Die geopolitische binäre Logik von Freund und Feind er­gänzt sie oder tritt an ihre Stelle. Reiche und mächtige Nationalstaaten rekurrieren auf imperialistische Methoden von Herrschaft, Ausbeutung und Aneignung.” (S. 65)

Zur Zeit gibt es weltweit mehrere Machtblöcke, die um wirtschaftlichen und politischen Einfluss konkurrieren: zunächst die USA im Bündnis mit der EU und Japan, dann China und an dritter Stelle Russland. Chinas Wirtschaft ist in den letzten Jahr­zehnten rasant gewachsen; der Außenhandel und die Investitionen rund um den Glo­bus haben stark zugenommen. Auch andere asiatische Staaten wie Indien verzeichnen ein hohes Wirtschaftswachstum und sorgen daher für Konkurrenz bei der Nachfrage nach Rohstoffen.

Deutschland ist innerhalb der Europäischen Union der Staat mit der stärksten Volkswirtschaft, und es ist in hohem Maße von Import und Export abhängig. Im Jahr 2010 forderte der damalige Bundespräsident Horst Köhler, „dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Ein­satz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern.” (Renz S. 2)

Mit diesem Zitat beginnt Lukas Renz von der Informationsstelle Militarisierung (IMI) seine Studie über „Rohstoffimperialismus. Deutsche und europäische Entwicklungspolitik im Dienste von Wirtschaft und Machtpolitik”. Er stellt fest: „Die vormaligen direktimperialisti­schen Einflussnahmen und Kontrollen sind mit der Entkolonisierung weitestgehend ersetzt worden durch einen informellen Imperialismus. Die Außenhandelspolitik und die im Kontext der Entkolonisierung entste­hende EP [Entwicklungspolitik] sichern den Wirtschaftszentren politischen Einfluss auf die Entwicklungsländer – der allen voran für den Zugriff auf Rohstoffe des Glo­balen Südens genutzt wird. Soziale Wi­der­sprüche und bewaffnete Konflikte in den Entwicklungsländern speisen sich vor­rangig aus ebendieser Wirtschaftsweise” (S. 2)

Zu dieser Wirtschaftsweise gehört auch das Bestreben der EU, Ausfuhrbeschränkungen zu verbieten oder zu minimieren, ebenso Ausfuhrzölle oder -steuern (S. 10). Dadurch wird den Regierungen der Rohstoffländer jede Chance genommen, ihre Ressourcen zu kontrollieren und eine verarbeitende Industrie aufzubauen. Das führt zur Verstetigung von Unterentwicklung und Armut, und Armut ist die Hauptursache für bewaffnete Konflikte in diesen Ländern.

Der Rohstoffhunger der europäischen Konzerne trägt zur Destabilisierung von Ländern wie Kongo oder Mali bei, die instabilen Zustände wiederum dienen den euro­päischen Regierungen als Rechtfertigung für mili­tärisches Eingreifen. Das Parade­beispiel ist die Bekämp­fung von Piraten vor der Küste Somalias seit 2008 im Rahmen der EU-Mission ATA­LANTA. Störungen der Tankerroute sollten und sollen durch Kriegsschiffe der EU-Staaten verhindert werden.

Die EU arbeitet aktuell an einer Europäischen Maritimen Sicherheitsstrategie (EMSS), um die bisherige Politik in diesem Bereich zu systematisieren (S. 16). Auch die Verteidigungspolitischen Richt­linien des zuständigen deutschen Ministeriums aus dem Jahr 1992 fordern „einen freien und ungehinderten Welthandel sowie den freien Zugang zur Hohen See und zu natürlichen Ressourcen” (S. 16). Der CDU-Politiker Friedbert Pflüger, ehemaliger Staatssekretär des Verteidigungsministeriums äußerte sich im Jahr 2010 noch offener: „Der dominierende Konflikt der Weltpolitik im 21. Jahrhundert wird der Kampf um Energie, Rohstoffe und Wasser sein. Nationalismus, Kolonialismus und Imperialismus des 19. Jahrhunderts kehren zurück.” (S. 22)

Die deutschen Streitkräfte wurden nach der Wiedervereinigung Schritt für Schritt auf ihre neuen Aufgaben in dieser internationalen Konkurrenz umgestellt. Die Marine wurde ab 1991 konzeptionell neu ausgerichtet und beteiligt sich seitdem im Rahmen der NATO an weitreichenden überseeischen Operationen. Auch die Luftwaffe wurde und wird modernisiert, z. B. durch die Entwicklung des neuen Airbus A 400 M. Dieser soll die bewährte, aber zu kleine Transall ablösen und soll mit größerer Reichweite und mehr als doppelt so hoher Nutzlast die Einsatzmöglichkeiten für das euro­päische Militär erweitern.

Ferngelenkte, unbemannte Flugkörper, sogenannte Drohnen wurden von der Bundeswehr bereits in Afghanistan eingesetzt, und zwar für die Aufklärung. Die Truppe er­hielt von ihnen in Echt­zeit Informationen über Gegner und Gelände und konnte da­durch ihre Kampfmittel schneller und genauer einsetzen. Zur Zeit wird über die Be­schaf­fung von Kampfdrohnen für die Bundeswehr kontrovers debattiert. Allerdings wer­den schon jetzt von deutschem Boden aus Drohnenangriffe organisiert, aber von den US-Streitkräften. Diese unterhalten in Stuttgart nicht nur EUCOM, ihr Hauptquartier für Europa, sondern auch AFRICOM, die Kommandozentrale für Afrika. AFRICOM plant und steuert den sogenannten Krieg gegen den Terror in Afrika und dem Jemen. Man kann davon ausgehen, dass bisher schon über hundert Menschen unter der Regie von AFRICOM auf diese Weise getötet wurden (Näheres ist in dem Buch „Geheimer Krieg” von Christian Fuchs und John Goetz zu lesen).

Der Blick auf die modernen Waffensysteme der Bundeswehr macht deutlich, dass die Anforderungen an Soldaten und Offiziere ganz anders sind als vor der Wiedervereinigung. Damals brauchte man eine Armee, die mitten in Europa kämp­fen sollte, entwe­der vor oder hinter dem Eisernen Vorhang, mit großen Infanterie- und Panzerver­bän­den. Heute ist Deutschland, wie es so schön heißt, „von Freunden umzingelt”, und die Kampfgebiete liegen weit weg, z. B. in Afghanistan. Da macht eine Massen-Armee keinen Sinn, mit Wehrpflichtigen, von denen viele lustlos oder unwillig Soldat spie­len. Man braucht motivierte, gut trainierte High-Tech-Krieger, die die teuren Waffen­systeme auch professionell und effektiv einsetzen.

Die neue Militärdoktrin für die Bundeswehr kann man als Militärinterventionismus bezeichnen, das heißt: das Androhen und Durchführen von militärischen Interventionen wird zum regulären Instrument der Außenpolitik. Dies ist zwar in einem gewissen Ausmaß eine Militarisierung von Politik, aber mit „Militarismus” kann man es nicht gleichsetzen. Denn als Definition dieses Begriffs ist bei Wikipedia folgendes zu fin­den: Militarismus ist die Dominanz militärischer Wertvorstellungen und Interessen in der Politik und im gesellschaftlichen Leben. Das passt sehr gut zur alten preu­ßisch-deutschen Militärpolitik bis 1945, aber es wäre eine falsche Beschreibung für die Rolle des Militärs in den europäi­schen Gesellschaften. Die moderne europäische bzw. deutsche Militärpolitik braucht keine umfassende gesellschaftliche Mobilisierung für den Krieg, sondern eine professionelle Armee und viel Geld für die neuen Waffensysteme. Denn technologische Überlegenheit verspricht militärische Überlegenheit. Die Staaten der Europäischen Union stecken Milliarden Euro in die Rüstungsforschung und in die Rüstungsindustrie. Als Nebenwirkung entsteht ein umfangreicher Rüstungsexport.

Der neue Militärinterventionismus versteckt Machtbestrebungen gern hinter Gerede über Menschenrechte und Humanität. Sehr engagiert macht das unser Bundespräsident Joachim Gauck. Mit Gaucks Reden beschäftigt sich ein Aufsatz in der neuen Broschüre der Informations­stelle Militarisierung mit dem Titel „Deutschland: Wi(e)der die Großmacht”. Der Aufsatz von Jürgen Wagner heißt: „Deutschlands (neue) Großmachtambitionen. Von der „Kultur der (militäri­schen) Zurückhaltung” zur „Kultur der Kriegsfähigkeit”.Eine „Kultur der Zurückhaltung” in militärischen Angelegenheiten wurde 2009 im Koali­tionsvertrag der CDU/FDP-Regierung verkündet. Der damalige Außenminister Wes­ter­welle hielt sich auch daran und lehnte 2011 eine Teilnahme der Bundeswehr an einer militärischen Intervention in Libyen ab.

Im neuen Koalitionsvertrag von CDU und SPD steht nichts mehr von einer „Kultur der Zurück­haltung”. Bun­des­präsident Gauck hielt dann Anfang 2014 auf der Münche­ner Sicherheitskonferenz eine Rede, in der er diese Zurückhaltung kritisierte und sich für eine offensiver ausgerichtete Außenpolitik aussprach. Hier ein Zitat:

„Ich meine: Die Bundesrepublik sollte sich als guter Partner früher, entschiedener und substantieller einbringen. […] Manchmal kann auch der Einsatz von Soldaten erforderlich sein. […] Auch wer nicht handelt, übernimmt Verantwortung.” (S.6)

Diese Rhetorik ist nicht so ganz neu. Bereits vor dem Kosovo-Krieg wurde die deutsche Öffentlichkeit mit einer angeblichen Verantwortung für eine unterlassene Hilfeleistung moralisch erpresst. Denn nach Meinung des damaligen Außenministers Fischer konnte nur ein militärisches Eingreifen einen Völ­ker­mord an den Albanern im Kosovo verhindern. Dass das alles erlogen war, wissen wir inzwischen. Es ist zu befürchten, dass auch Gauck in einer ähnlichen Situation die Öffentlichkeit auf diese Weise täuschen könnte.

Wenn man Verantwortung so versteht, dass nicht die Absichten und Pläne zählen, sondern die Ergebnisse, so ist die Militärintervention in Afghanistan ein klarer Fall von verantwortungslosem Handeln. Das meint Lühr Henken in seinem Aufsatz: Militärische „Lehren” aus Afghanistan?, der auch in der neuen Broschüre der Informationsstelle Militarisierung enthalten ist. Die Bilanz ist erschreckend: „in Afgha­nistan 180.000 bis 250.000 direkte Tote auf allen Seiten. In Pakistan, als direkte Folge der NATO-Intervention in Afghanistan, bisher rund 80.000 Tote.” (S. 47)

Hat man denn wenigsten einen dauerhaften Frieden erreicht? Anscheinend nicht. Im Jahr 2014 waren nach Angaben der UN-Mission in Kabul 3699 Zivilisten getötet und 6849 weitere verwundet worden. Selbst ein Professor an der Bundeswehr-Uni München, Carlo Masala, muss zugeben, dass „die Mission an sich als gescheitert gelten kann, das Land alles andere als stabil ist, die Gefahr eines langanhaltenden Bürgerkriegs fortbesteht und man mit einer erneuten Machtübernahme durch die Taliban rechnen muss.” (S. 47) Aber dennoch sei der Bundeswehreinsatz ein Erfolg gewesen, denn die Bundeswehr habe viel gelernt und habe sich „zu einer Einsatzarmee weiterentwickelt, die heute das gesamte Spektrum der militärischen Aufgaben einschließlich des Gefechts ab­decken und ausüben kann.” (S. 47) Mit anderen Worten: durch den Afghanistan-Einsatz ist die Bundeswehr eine bessere Interventionsarmee geworden. Dafür nimmt man eigene tote, verwundete und traumatisierte Solda­ten sowie Tod und Zerstörung unter den Afghanen billigend in Kauf.

 

Lühr Henken schließt seinen Beitrag mit den folgenden Sätzen: (S. 50)

„Der gescheiterte Kriegseinsatz von NATO und Bundeswehr in Afghanistan führt nicht etwa zur grundsätzlichen Umkehr im Denken, also zu einer Infragestellung des Militärinterventionismus, sondern im Gegenteil, zum Versuch, diesen über ein Mehr an Technik zu perfektionieren. Ich befürchte, dass die Rufe nach noch mehr kriegerischen Bundeswehreinsätzen dann zunehmen werden, sobald die in der Herstellung befindlichen Waffen und Ausrüstungen einsatzbereit sind. Das wird spürbar ab 2016 der Fall sein.Das heißt, wir werden unsere Anstrengungen gegen die Militarisierung, gegen Kriege, für Frieden und Abrüstung auf vielfältige Weise verstärken müssen.”

Zu den nötigen Aktivitäten gehören nicht nur Proteste gegen die Politik von Bundesregierung, EU und NATO, sondern auch die Erarbeitung und Verbreitung von Alternativen. Innerhalb des linken Spektrums scheint es Konsens zu sein, dass die Ursachen für militärische Konflikte, Bürgerkriege und Staatszerfall politisch bekämpft werden müssen, bzw. dass Politik und Wirtschaftsordnung so geändert werden müssen, dass diese kriegerischen Konflikte gar nicht erst entstehen.

Unterschiedliche Meinungen gibt es sicher darüber, ob die UNO von großem Nutzen für den Frieden ist. Die Partei „DIE LINKE” beurteilt die Rolle der UNO grundsätzlich positiv. Dazu ein Zitat aus einer Publikation der Rosa-Luxemburg-Stiftung aus dem Jahr 2011 „UNO-Militäreinsätze in der Diskussion der LINKEN”:

„Der Bezugsrahmen für eine tatsächlich dem Frieden dienende Außenpolitik können nur die UNO und das geltende Völkerrecht sein. UNO, Völkerrecht und ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit sind sinnvolle und realisierbare Alternativen zu einer militärisch orientierten «Friedens-» und Sicherheitspolitik. Zugleich stellt sich die Frage, ob die UNO bzw. der UNO-Sicherheitsrat selbst jene hohen Ziele umsetzt, die mit der UNO-Charta und ihrem Friedensgebot bzw. Gewaltverbot einst gesetzt wurden. Ein zentrales Problem sind die Ermächtigungen zur Kriegsführung und die UNO-Militäreinsätze. Dazu wird in der LINKEN nach wie vor diskutiert.” (S. 1)

Man kann sich dieser Einschätzung anschließen. Die UNO als Institution kann dazu genutzt werden, den Militarismus der Großmächte einzudämmen. Allerdings hat sie in ihrer Praxis oft dem Druck bestimmter Staaten nachgegeben und nicht klar genug gegen militärische Interventionen Stellung bezogen, die eindeutig das Völkerrecht verletzt haben, z. B. im Kosovo-Krieg. Man darf den Einfluss der UNO nicht überschätzen, aber sie bietet durchaus Möglichkeiten, mehr Frieden zu schaffen – ohne Waffen.

Literatur:

John Darwin, Der imperiale Traum. Die Globalgeschichte großer Reiche 1400 – 2000, Campus Verlag, Frankfurt 2010.

Elmar Altvater, Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Eine radikale Kapitalismuskritik, Westfälisches Dampfboot 2006.

Christian Fuchs, John Goetz, Geheimer Krieg. Wie von Deutschland aus der Kampf gegen den Terror gesteuert wird, Rowohlt Verlag Reinbek 2013.

Lukas Renz, Rohstoffimperialismus. Deutsche und europäische Entwicklungspolitik im Dienst von Wirtschaft und Machtpolitik, IMI-Studie 01/2014.

Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V., Hechinger Str. 203, 72072 Tübingen, web: www.imi-online.de

Deutschland: Wi(e)der Großmacht? Herausgeber: Informationsstelle Militarisierung, März 2015.

darin:

Jürgen Wagner, Deutschlands (neue) Großmachtambitionen. Von der „Kultur der (militärischen) Zurückhaltung zur „Kultur der Kriegsfähigkeit”, S. 3 – 9.

Lühr Henken, Militärische „Lehren” aus Afghanistan?, S. 47 – 50.

Rosa-Luxemburg-Stiftung, Standpunkte 28/2011, hrsg. von Erhard Crome. web: www.rosalux.de