Buchbesprechung der Originalausgabe 2018

Vortrag und Diskussion am Sonntag, 13. November 2022, ab 11 Uhr in der Donnerschweerstraße 55

Vortragstext siehe hier und Folien siehe hier

Nancy Fraser ist Professor of Political and Social Science und Professorin für Philosophie an der New School for Social Research in New York, sie verbrachte das Wintersemester 2016 am Forschungszentrum zu „Postwachstumsgesellschaften“ in Jena.

Nancy Fraser stellt uns im Gespräch mit Rahel Jaeggi, Professorin für Praktische Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin, einen „Begriff“ des Kapitalismus in seinen verschiedenen historischen Formen vor, „die stets auf der Trennung von Ökonomie und Politik, Produktion und Reproduktion, menschlicher Gesellschaft und Natur beruhen“ (Klappentext). Sie liefert „Diagnosen der gegenwärtigen Krisen und Aufstände“ und analysiert „die Handlungsspielräume linker Politik“.

Kritik komplexer machen

Dabei bezieht sie sich immer wieder auf Marx, kritisiert und ergänzt aber auch seine Theorie. Sie vertritt den Ansatz, dass „sowohl Klasse als auch Status“ relevant seien, dass es im Kapitalismus sowohl um Umverteilung als auch um Anerkennung geht. „Das ist auch der Grund, warum ich darauf bestanden habe, dass wir nicht einfach zu einer älteren überkommenen Kritik der politischen Ökonomie zurückkehren können, sondern vielmehr diese Kritik komplexer machen, vertiefen und bereichern müssen, indem wir die Einsichten des feministischen Denkens, der Kulturtheorie und des Poststrukturalismus, des postkolonialen Denkens und der Ökologie einbeziehen.“ (Seite 21)

Vordergrund erfordert Hintergrund

„Ich würde den paradoxen Charakter der institutionalisierten Abgrenzung der kapitalistischen Ökonomie von der ‚Gesellschaft‘ hervorheben. Diese Abgrenzung ist zugleich wirklich und unmöglich – was erklären mag, warum die kapitalistische Gesellschaft so pervers und destabilisierend ist und so sehr periodischen Krisen unterliegt.“ (48) „...der ‚ökonomische Vordergrund‘ der kapitalistischen Gesellschaft erfordert einen ‚nicht-ökonomischen Hintergrund‘“. (49) Beständig ist eine „dem Kapitalismus innewohnende Spannung zwischen Produktion und Reproduktion...“ (122)

Symbiose von Widersprüchen

Fraser lehnt „die Ansicht des primären (Anm.: Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit) und sekundären Widerspruchs nachdrücklich“ ab. „Der ganze Witz der Aufdeckung zusätzlicher ‚verborgener Stätten‘, die über diejenigen hinausgehen, auf die sich Marx konzentrierte, besteht darin zu zeigen, dass die Formen der Unterdrückung, die sie beinhalten (Unterordnung von Geschlechtern und Rassen, Imperialismus und politische Herrschaft, ökologischer Raubbau) integrierte Strukturmerkmale der kapitalistischen Gesellschaft sind – die ebenso tief verankert sind wie Ausbeutung und Klassenherrschaft.“ (155)

Es ist festzuhalten, „dass die ausschließliche Konzentration auf Ausbeutung und Produktion arbeitende Menschen beliebiger Hautfarbe oder beliebigen Geschlechts nicht emanzipieren kann; es ist außerdem notwendig, auf die Enteignung und die Reproduktion abzuzielen, mit der die Ausbeutung und Produktion auf jeden Fall verknüpft sind. Ebenso ist ... die ausschließliche Konzentration auf Diskriminierung, Ideologie und das Gesetz nicht der Königsweg zur Überwindung von Rassismus oder Sexismus; es ist außerdem notwendig, den hartnäckigen Zusammenhang von Enteignung und Ausbeutung, Reproduktion und Produktion innerhalb des Kapitalismus in Frage zu stellen. ... Das bedeutet sowohl die Überwindung von Ausbeutung und Enteignung als auch die der Trennung zwischen Produktion und Reproduktion durch die Abschaffung des umfassenderen Systems, das ihre Symbiose hervorbringt.“ (161)

Reine Abwehr ist nicht verheißungsvoll

„Eine Haltung, die sich ausschließlich auf Abwehr richtet, ist nicht die Antwort. Sie nimmt vorhandene ‚Tröstungen‘ weg, während sie im Gegenzug nichts anbietet. Um Marx zu paraphrasieren: Das Ziel ist nicht, ‚die imaginären Blumen an der Kette [...] zu zerpflücken, damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche‘“. (294)