Horst Kahrs, 26. Februar 2013

Vier Reflexionen zum Text

„Konstitution und Repräsentation in der Geschichte der Linken“

(weitere Diskussionsbeiträge inzwischen unter: http://www.linkes-forum-oldenburg.de/index.php/geschichte-der-linken)  

I. Das Unbehagen des Citoyen an seiner „postdemokratischen Entzauberung“

Worum geht es am Ende: Wie kann und soll die Linke auf die „Postdemokratie“ oder die postdemokratischen Tendenzen reagieren? Der Vorschlag des Textes lautet: „nicht primär“ durch „lokale, zahlenmäßig eng begrenzte demokratische Kleinstrukturen“, sondern durch „die Eröffnung einer gesellschaftlichen Debatte um die vernünftige Konstitution, um den Kerngehalt eines volonté générale, in dem per neuem Gesellschaftsvertrag gleichzeitig über demokratische, soziale und Naturrechte verhandelt wird“.

Handelt es sich dabei um einen Gegensatz im Sinne eines „Entweder – oder“?  Am Ende wird es so sein (und so zu denken sein), dass das eine nicht ohne das andere zu haben sein wird.

Der Bürgerhaushalt stößt unmittelbar an die Grenzen kommunaler Souveränität und auf nationale, europäische, ja globale Strukturen, etwa beim Vergaberecht, bei Ansiedlungsfragen oder wenn es – aktuell - um den Umgang mit den neuen „Armutsmigranten“ aus Rumänien und Bulgarien, also den Roma, geht. Das Sympathische am Bürgerhaushalt ist, dass er am Begriff des Bürgers als Citoyen festhält, ja, ihn reklamiert. Unsympathisch macht ihn, neben der kommunalen Begrenztheit, dass in der Praxis mehr und mehr die kleinen Bourgeois das Geschehen dominieren. Überhaupt werden die jüngsten Protestbewegungen gegen Großprojekte von (männlichen) Angehörigen der oberen Mittel- und Oberschicht geprägt (siehe dazu die jüngste Studie des Göttinger Instituts für Demokratieforschung „Bürgerproteste in Deutschland“, These: „Bürger protestieren gegen Bürger“), ausgestattet mit Zeit, Information und meist natur- bzw. ingenieurwissenschaftlicher Qualifikation, die zu veralten droht oder bereits durch Jüngere entwertet worden ist. (Ein Nebenaspekt, der jedoch verdeutlicht, dass es neben der klassischen linken Eintrittsschwelle  (Sprache, Habitus) bei diesen lokal- und direktdemokratischen Bewegungen eine weitere gibt.)

Was wäre - auf der anderen Seite - eine neue Debatte über eine vernünftige Konstitution, einen neuen Gesellschaftsvertrag? Zunächst: Befinden wir uns nicht bereits mittendrin? Der Bundestag hat in dieser Legislaturperiode zwei Enquete-Kommissionen eingesetzt, die durchaus in diesem Sinne zu verstehen sind: eine zu neuen Wohlstandsindikatoren über das BIP hinaus („Wachstums-Enquete“) und eine zur Digitalisierung („Internet“-Enquete). Weiter: Das Bundesverfassungsgericht musste mehrfach Entscheidungen zur Souveränität des obersten Repräsentativorgans im Verhältnis zu supranationalstaatlichen Institutionen fällen. Die Frage, ob (und wie) Demokratie und Kapitalismus überhaupt zusammen gehen beschäftigt seit mehr als vier Jahren das traditionelle Bürgertum und die ehemaligen theoretischen Exponenten der Neuen Sozialdemokratie (in persona z.B. Frank Schirrmacher und Wolfgang Streeck). Meine These: Für die Linke ginge es nicht um die Eröffnung einer gesellschaftlichen Debatte, sondern darum, endlich an dieser bereits stattfindenden Debatte teilzunehmen, um die aktive Beteiligung und Intervention. (Auch hier eine Nebenbemerkung: Manche Bürgerliche haben festgestellt, dass der Siegeszug der Hayek-Jünger durch die wissenschaftlichen Institutionen, nicht nur der ökonomischen Lehrstühle, zu einer gefährlichen intellektuellen Verarmung in der Wahrnehmung der Realität und deren Verarbeitungskapazitäten geführt haben – und laden sich zwischenzeitlich gerne auch mal Sahra Wagenknecht ein...)

Dabei könnte es für Linke dann gerade darum gehen, den Erfahrungen mit den strukturellen Grenzen lokaler Partizipationsbestrebungen Ausdruck zu verleihen und Richtungen anzubieten. Man müsste dieses Feld nicht bei den Freien Wählern einerseits und der Piratenpartei andererseits verkommen lassen, sondern könnte es auch zum Ausgangspunkt der alten sozialistischen Fragestellung zu machen: Was ist nötig, wie müssen die Verhältnisse, in denen ich lebe, beschaffen sein, damit ich erstens möglichst große Kontrolle über meine Lebensverhältnisse habe („Sicherheit“) und zweitens möglichst viele Chancen, mein Leben selbst zu gestalten („Freiheit“)?

Schließlich erscheint mir eine Verständigung zur Reichweite einer Konstitutionsdebatte, eines neuen Gesellschaftsvertrages notwendig: Geht es ums Ganze? Oder bleiben die ersten zwanzig bzw. die „unveränderlichen“ Artikel des Grundgesetzes außen vor? Wenn das der Fall ist, reden wir dann letztlich nicht doch wieder im Feld der Repräsentation, der qualifizierten Mehrheitsentscheidungen? Ich denke, darum muss es gehen. Eine elementare Geschäftsgrundlage zu verteidigen, heißt nicht zwingend, dass alles so bleiben muss, wie es ist, aber vielleicht sollte gerade die Linke die Frage aufwerfen, was erforderlich ist, damit die repräsentative Demokratie wieder halbwegs funktioniert, also Restaurierung und Sanierung, statt aus dem beklagenswerten Zustand den Ruf nach weitgehenden, direktdemokratischen Veränderungen abzuleiten. Die vorgeschlagene Direktwahl des Bundespräsidenten sehe ich z.B. als eine weitgehende Veränderung der institutionellen Balance. Niemand besäße eine so umfassende politische Legitimation und gleichzeitig so wenig Macht – ein Zustand, der vermutlich eine Hebelwirkung in Richtung Ausbau zur Präsidialdemokratie hätte. Überlegenswert wäre hingegen, die Rekrutierungsmechanismen des politischen Betriebs durcheinander zu bringen, z.B. durch die Begrenzung auf zwei aufeinander folgende Legislaturperioden für alle nicht direktgewählten Abgeordneten oder einer Sitzverteilung nicht entsprechend des Anteils an allen gültigen Stimmen, sondern der Stimmen an allen Wahlberechtigten. Schließlich und entscheidend: die von Gerhard Kraiker in seinem Postdemokratie-Text angesprochene Einbettung der demokratischen Politik, die sowohl die Seite des Sich-Einbettens als auch diejenige des Eingebettet-Werden umfasst.

II. Zur Frage, woraus eine Debatte um Konstitution und Gesellschaftsvertrag erwächst

Der archimedische Punkt einer Konstitutions- und Gesellschaftsvertrags-Debatte ist in meinen Augen: Wer debattiert mit wem? Gerade die lateinamerikanischen Beispiele zeigen, dass diese Debatte begann und gelang, weil sie mit einer politischen Mobilisierung der Indigenas verbunden war. Analog würde das heißen: Wie wären gerade diejenigen zu mobilisieren, die sich fast schon im Sinne eines Klassenverhaltens aus der politischen Partizipation zurückgezogen haben (weil sie sich selbst nicht für kompetent halten, weil sie ihre Lebenswelt in der „öffentlichen“ Welt nicht wiederfinden, und was der Gründe mehr sind – siehe meine Studie zum „Abschied aus der Demokratie“).

Ist das Konzept von Rousseau, von „Allgemeinwohl“ und „Mehrheitsentscheidungen“ noch ein zeitgemäßes und für linke Politik anzuwenden? Rousseau’s Konzept ist, historisch, eines zur politischen Ermächtigung und Machtergreifung des Bürgers gegenüber dem Aristokraten, der als Klasse zugleich Träger allgemeiner Menschheitsinteressen sei, wenn es ihm gelänge, sich von besonderen Interessen zu distanzieren. (Nur eine Nebenbemerkung?: Die strukturelle Analogie von „volonté générale“ und „invisible hand“ liegt auf der Hand: beides sind Prozesse, die der alltäglichen Politik, dem Streit der Interessen und Mehrheitsentscheidungen entzogen sein sollen. Wie das Allgemeinwohl in die Welt kommt, ist dann entweder eine Frage der diskursiven, kommunikativen Vernunft und Interessenlosigkeit bei Einsicht und Handeln - oder eine Frage der Gewehrläufe. Das Allgemeinwohl, weil ein Gebot der Vernunft, ist gegenüber dem individuellen Wohl höherrangig und durchzusetzen. Es ist zugleich die Geburtsstunde des Staates und in seiner Eigenschaft als Klassenstaat zugleich seine Maskerade. Zugleich wissen wir mittlerweile um die Tendenz der Vernunft zur Hybris und Barbarei.

Oder anders argumentiert: In der Politik sind Begriffe immer (auch) Setzungen, die ein strategisches Handlungsfeld abstecken, ein „Sollen“ enthalten und Interessen und soziale Positionen zusammenführen, zu Klassen und Parteien formieren sollen. Marxens „Erzählung“ vom Proletariat als der „letzten“ und interessenlosen Klasse, die in historischer Mission die Vorgeschichte zu beenden habe, folgt diesem Muster. Sie entstand nicht umsonst in (vor-)revolutionären Zeiten. Nach der missglückten Revolution analysierte Marx die Bewegungen des Kapitals, was sich ja auch lesen lässt als Selbstaufklärung über die Gründe des Scheiterns... (Kommt dir sicher bekannt vor...), welches dann 1914 zum Offenbarungseid führte. Es käme heute darauf an herauszufinden, ob es eine neue „strategische Setzung“ geben kann, die die Qualität der Entdeckung der „Arbeiterklasse“ erreichen kann, also gemeinsame Interessen glaubhaft machen, Zugehörigkeitsstolz usw. entfalten usw. Die Multitude ist es sicherlich nicht, das „Mosaik“ ebensowenig.

Überhaupt ist ja fraglich, ob die Konstruktion eines historischen Subjekts im alten Sinn noch möglich und geboten ist. Denn mit dem „Eintritt der Massen in die Politik“ und dem allgemeinen gleichen Wahlrecht haben sich die Bedingungen der Politik doch recht fundamental verändert. Was Engels 1895 andeutete, den Übergang vom Barrikadenkampf zum parlamentarischen Kampf: die Macht der großen Zahl, wurde nun greifbar. Allein, das sich verallgemeinernde Klasseninteresse formierte sich nicht zu einem einheitlichen Willen und entsprechenden politischen Mehrheiten. In Deutschland zumindest verlor sich die Furcht der Wenigen vor dem potentiellen gemeinsamen Willen der Vielen, die noch die Weimarer Republik bestimmte, recht schnell in der Erkenntnis, dass sich erfolgreich Beutegemeinschaften anbieten lassen.

Die Erschöpfung der „demokratischen Energien“ (Kraiker) stärkt die postdemokratischen Tendenzen, wobei man „Postdemokratie“ auch als Synonym für die Rückkehr von Klassen lesen kann.  Vielleicht muss man links damit beginnen, die Demokratie nicht mehr aus ihrer bürgerlich-liberalen Tradition und Bestimmung zu entwickeln und zu begründen, sondern radikal aus dem Grundsatz der Gleichheit. „Die bisherigen Demokratiemodelle der Linken“, schreibt Gerd Kraiker zurecht, „gingen von der Gleichung Interesse gleich politisches Verhalten aus. Daraus resultieren Modelle wie die direkte Demokratie, das imperative Mandat, Rätesystem.“

III. Unterstellungen der Demokratie 

Demokratie lebt einen unveräußerlichen Grundsatz: die wechselseitige Anerkennung als Gleiche mit gleichen Freiheiten, Rechten und Pflichten, mit wechselseitiger Unterstellung und Anerkennung der „freien Willensbildung“. Die demokratische Ordnung wäre diejenige, die am besten zum Ausdruck bringt, dass sich die Zugehörigen als freie Personen unter wechselseitiger Anerkennung der Freiheit aller anderen verstehen (Christoph Möllers, Demokratie – Zumutungen und Versprechen, Berlin 2008) (Ist das Konzept der „Person“, ein bürgerliches, hintergehbar?) Aus diesem Grundsatz lässt sich alles weitere herleiten: Die Grundlagen der Demokratie und ihre Verfahren sind Ergebnis einer Entscheidung (nicht einer Erkenntnis). Über die Voraussetzungen einer Demokratie kann nur demokratisch entschieden werden, sie ist eine Form der Herrschaft, die Herrschaft erkennbar und legitimierbar macht, deren eigene Bedingungen immer wieder neu hergestellt, auch verändert werden müssen. Wenn das so ist, dann repräsentieren die demokratischen Verfahren und ihre Ergebnisse keinen bereits vorher existierenden Willen (des Volkes, der Klasse, des Kapitals usw.usf.), sondern bringen ihn zum Ausdruck. Nicht repräsentative Demokratie, sondern expressive Demokratie. Die „Produktionsverfahren“, also die Voraussetzungen für die demokratische Gleichheit, stehen als erste zur Diskussion: Information, Bildung, Transparenz, ...? (Damit meine ich nicht, dass eine gewisse Bildung für politische Urteil Voraussetzung ist. Für alle gilt die Unterstellung, das gleiche Vermögen zu haben, über politische Angelegenheiten zu urteilen. „Politische Urteilskraft betrifft die elementare Fähigkeit, beurteilen zu können, was für das eigene Leben richtig und wichtig ist und was nicht.“ (Christoph Möllers)

Konstitutioneller Gegenstand von Demokratie und Politik ist die Grenzziehung zwischen privaten und öffentlichen Angelegenheiten. Die öffentlichen Angelegenheiten sind die Angelegenheiten aller und das Feld demokratischer Willensbildung. (Nebenbei: Der Ausschluss von oder der (auch freiwillige) Verzicht auf Beteiligung verletzen diesen Grundsatz, weil man sich theoretisch nicht weigern kann, an einer Entscheidungsfindung in den Angelegenheiten aller teilzunehmen, was eine Wahlpflicht-Norm begründet – deren Verletzung ja nicht zwingend sanktioniert werden muss.) Die Grenze der Angelegenheiten aller, die unter öffentlicher Entscheidungsgewalt liegen, können (und werden) verschoben werden. Sie können sich auch auf Investitionsentscheidungen erstrecken, also auf den Eigentumsgebrauch und genauso auf das Naturverhältnis, also auf die Ökologie, wären aber frei von gesetzten allgemeinen Menschheitsinteressen.

Bleibt die Frage, was die Revolutionierung der Arbeits- und Lebensweise, der Produktionsweise für die Lebensbedingungen der Demokratie bedeutet, welche Rolle soziale und virtuelle Plätze der Debatte über die öffentlichen Angelegenheiten spielen, wie sich durch Hybridformen überhaupt die Formen von Öffentlichkeit und die Zusammensetzung des Souveräns demokratischer Entscheidungen verändern.

Oder eine Zuspitzung, nur zwecks Klarheit, zu benutzen: es ginge in meinen Augen nicht „um den Prozess der Konstitution eines gesellschaftlichen Rahmens für repräsentative Entscheidungen“, sondern um die Überprüfung der demokratischen Verfahren zur Hervorbringung von Entscheidungen im Sinne einer expressiven Demokratie. (Nur um die Spannbreite deutlich zu machen: Das könnten z.B. auch Verständigungen auf „Stichproben“-Entscheidungen sein: Eine Gruppe von repräsentativ ausgewählten Personen bekommt das Recht (und die Pflicht) übertragen, für alle eine Entscheidung zu treffen, z.B. vorher Experten anzuhören usw. – also eine Art Geschworenen-Modell).

  IV. Was wäre linkes „Maßhalten“?

Den Zustand der Demokratie zum Gegenstand, ja vielleicht sogar: zentralen und Ausgangspunktlinker Politik zu machen, teile ich ausdrücklich. Zweifel habe ich zu dem Gedanken, dass alle „demokratischen Rechte garantiert und realisiert sind, aber kaum genutzt werden müssen, weil die freie individuelle Entwicklung aller per Gerechtigkeitspostulat garantiert ist“. (An anderer Stelle hast du das Verhältnis des Bürgers zur Demokratie mit dem Bild des Verhältnisses des Autofahrers zum Verkehr beschrieben, wo ja erst ein Problem auftauche mit einem Stau, also Demokratie als „Verwaltung gesellschaftlichen Mangels“.) Abgesehen von meinen Zweifeln am Gerechtigkeitsbegriff/-postulat: Am Ende steht dann wieder eine mit sich zufriedene Gesellschaft, die keiner demokratischen Verfahren mehr bedarf, um sich weiterentwickeln? Meine utopische Vorstellung funktioniert genau anders herum: Demokratie verspricht kein gutes Leben, und aus dem guten Leben folgt keine demokratische Legitimation. Sie verspricht auch keine Herrschaftslosigkeit.  Mit wachsendem materiellem Reichtum (oder: abnehmender notwendiger gesellschaftlicher Arbeit) wächst die Notwendigkeit und die Möglichkeit, über die Produktion und Verwendung des Reichtums Entscheidungen treffen zu können und zu müssen. Demokratie wäre als Gegengift gegen Stillstand usw. zu denken, an Stelle des Mangel- oder Knappheitsprinzips oder des Gewinnstrebens. Vor diesem Hintergrund würde ich, bezogen auf den Gedanken eines neuen Gesellschaftsvertrages, hierzulande einen anderen Punkt setzen: Gefragt ist vor allem Zeit, die Zeit, die die langsamen demokratischen Entscheidungsprozesse fordern, zu verteidigen gegen die beschleunigten Verwertungszyklen des Kapitals und die Aufmerksamkeitsökonomie der Medien. Dummerweise haben die Sozialdemokraten da diskurspolitisch schneller zugegriffen, aber es gibt zwei Begriffe, die meines Erachtens von linker Seite unbedingt aktuell in Stellung gebracht werden sollten: das „demokratische Maß“ und das „menschliche Maß“.