Dr. Carl Schultz

Um die Dialektik von Konstitution (Verfasstheit der Gesellschaft) und Repräsentation (Demokratische Willensbildung) in der Geschichte der Linken zu verstehen, scheint es sinnvoll, auf deren Verhältnis in der bürgerlichen Staatstheorie zurückzugehen. In dieser lässt sich Konstitution in eine Gleichung mit dem Allgemeinwohl ("volonté générale", "vereinigter Wille aller" bei Kant) und Repräsentation mit der Verhandlung von individuellen Interessen (volonté de tous) bringen.

 

Der "volonté générale" in der Rousseauschen Variante ist dabei nicht einfach eine Resultante der verschiedenen einzelnen Sonderwillen. Die Einzelinteressen spielen bei der Bestimmung der volonté générale keine Rolle. Damit der "volonté générale" zustande kommen kann, müssen die einzelnen Individuen gegenseitig und von ihrer gesellschaftlichen Situation isoliert werden (II/3+7), dürfen sich gegenseitig nicht konsultieren, so dass keine Gruppenbildung stattfinden kann, die die monadologischen und damit allgemein richtigen Einzelwillen illegitim beeinflussen könnte (bei Rawls später als undurchsichtiger Vorhang, der die Menschen untereinander und von der Erkennbarkeit ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Position trennt). In dieser Gegenübersetzung zur repräsentativen Demokratie, in der die Individuen ihre Gruppen- und Klasseninteressen ausdrücken, ist das spätere Problem der linken Bewegung mit der Demokratie bereits weitgehend enthalten, um geschichtlich unterschiedliche Antworten zu provozieren: einerseits ist der volonté générale nur dann erkennbar, wenn von den empirischen Lebensumständen abstrahiert wird bzw. historisch werden kann, andererseits beharrt gerade die Linke darauf, dass Menschen wesentlich durch ihre gesellschaftliche Lage geprägt sind und damit eine rein rationalistische Demokratietheorie notwendigerweise ideologische Komponenten in sich trägt.

In der Marxschen Theorie wird dieser innere Widerspruch durch eine geschichtliche Tendenz aufgehoben (siehe Marx/Engels: Das Kommunistische Manifest). Die fortschreitende bürgerliche Gesellschaft konstituiert im wachsenden Maße freie Arbeiter, die keinerlei Bezug mehr haben zu traditionellen, z.B. bäuerlich-abhängigen Lebensverhältnissen, und durch ihre doppelte Freiheit und gleichzeitige Homogenisierung dem Idealzustand historisch immer näher kommen, der für die Bildung eines volonté générales unterstellt werden muss. Mit dieser geschichtlichen Tendenz nähert sich die bürgerliche Gesellschaft dem demokratischen Ideal, weil damit für den überwiegenden Teil der Bevölkerung die jeweils besondere Interessensgeprägtheit in der Repräsentation nicht mehr zu unterstellt werden muss. Durch ihre gesellschaftliche Situation von allen spezifischen Interessen befreit, repräsentieren die Arbeiter damit die Monaden, die das allgemein menschliche Interesse des volonté générale zum Ausdruck bringen.

Allerdings dominierte historisch ein anderer Zustand: die linke Bewegung sah sich einerseits mit einer andauernden Tendenz konfrontiert, dass die bürgerliche Gesellschaft noch nicht mal eine repräsentative Demokratie garantierte, z.B. durch den Ausschluss der überwiegenden Teile der Bevölkerung vom Wahlrecht (Frauen, Eigentumslose, Sozialhilfeempfänger) oder durch Versammlungsverbote und Vereinigungsverbote bzw. in Form von faschistischen Bewegungen in Europa und in Form von Staatsstreichen in Südamerika. Insofern stand der Kampf um demokratisch-repräsentative Rechte im Mittelpunkt der linken Parteien. Gleichzeitig wurde deutlich, dass die Entwicklung einer Mehrheit doppelt freier Proletarier auf sich warten lassen würde (soweit sie denn überhaupt eintreten würde, was spätestens durch Bernstein bezweifelt wurde). Dieses Problem der "verzögerten" gesellschaftlichen Entwicklung war am stärksten dort virulent, wo die Unterdrückung aber auch die revolutionären Tendenzen am stärksten waren, wie z.B. in Russland, später in den Ländern mit antiimperialistischen Freiheitsbewegungen. In diesen Ländern war die Industrialisierung so schwach, dass die Entstehung einer der Konstitution entsprechenden gesellschaftlichen Situation kurzfristig nicht zu erwarten war.

Die zentralen Debatten der Linken um die Bedeutung der Demokratie lassen sich auf diese historische Konstellationen zurückführen. In Deutschland kam es zu einem Schwenk der SPD von der Frage der Konstitution zur Frage der Repräsentation. Dieser Schwenk wurde durch die These des friedlichen Hineinwachsens der Ökonomie vom Kapitalismus in den Sozialismus begleitet (wachsende Zentralisierung des Kapitals, wachsende Dominanz der Banken, Genossenschaftsgründungen). Insofern würden die Arbeiter ganz natürlich irgendwann die Mehrheit haben und dann würde die sozialistische Gesellschaft durch einen repräsentativen Akt „geerntet“. In der frühen Abspaltung der kommunistischen Bewegung von der SPD, die mit dem Namen von Rosa Luxemburg begleitet ist, blieb es bei der These der organischen Entwicklung einer konstitutionellen Mehrheit doppelt freier Menschen, wobei diese organische Entwicklung von einer wachsenden Krisenhaftigkeit des Kapitals begleitet sein würde. In der spontanen, von der Partei nur begleiteten Selbstorganisation der Arbeiter würde sich die neue gesellschaftliche Konstitution in einem Akt direkter Repräsentation quasi selber entwickeln. Im Gegensatz dazu stellte sich die kommunistische Bewegung in Russland komplett auf den Standpunkt der Konstitution: das Proletariat werde in Russland noch lange Jahrzehnte in der Minderheit bleiben. Radikale Veränderung basiere damit auf der Repräsentation der Arbeiterinteressen durch die Partei. Im praktischen Veränderungsprozess müssten zum Erreichen der Ziele verschiedenste andere Bevölkerungsgruppen taktisch mit eingespannt werden. Repräsentativer Demokratie kommt damit eine untergeordnete Rolle zu, da die Konstitution einer sozialistischen Gesellschaft vordringlich ist, dieser aber die Massenbasis fehle (siehe hierzu den erschreckend klaren und gegenüber der repräsentativen Demokratie offen instrumentalistischen Artikel von Georg Lukács in Reaktion auf Rosa Luxemburgs Kritik am Vorgehen der Bolschewiki).

In der weiteren Entwicklung lösen sich die sozialdemokratischen Parteien von dem rationalistischen Impuls der Formulierung eines konstitutionellen volonté générale - das Ziel eines demokratischen Sozialismus wird zu einer „ethischen“ Aufgabe, die von den Menschen geteilt oder nicht geteilt wird. Konstitution und volonté générale werden damit gewissermaßen zur Privatsache und sind nicht mehr allgemein zu formulieren. In der kommunistischen Bewegung bleibt der konstitutionelle Impuls bestehen, während die repräsentative Demokratie nur insofern Berücksichtigung findet, als dass der faktischen gesellschaftlichen Diversifizität des volonté des tous durch eine mehr oder weniger erzwungene Blockbildung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen unter Führung der kommunistischen Partei begegnet wurde (nicht immer erzwungen, wie die Volksfront 1936 in Frankreich und der Sieg von Allende in Chile beweisen, und dann auch ziemlich erfolgreich und von der bürgerlichen Gesellschaft intensiv bekämpft).

Mit der Studentenbewegung der sechziger und siebziger Jahre löst sich die Linke aus dieser Einbindung der Momente von Repräsentation und Konstitution in staatliche Strukturen. Mit dem Vorwurf der Eindimensionalität des Denkens und Entscheidens trennt sich die nicht traditionalistische Strömung der Linken von der staatlichen Fixierung, besinnt sich auf den Akt der Konstitution, in dem mit allen Bindungen an Luxus, vorgegebenen Gewohnheiten und Tabus gebrochen wird und eine direkte Verbindung zwischen Repräsentation und Konstitution in entsprechenden Alternativprojekten gesucht wird. Gesellschaftlich wird über teach-ins, gezielte Provokation und direkte Demokratie die geistige und faktische Enttarnung der herrschaftlichen Verfasstheit der Demokratie intendiert. Dieser Impuls ist stark genug, um die herrschende Klasse zu massiven Angriffen (z.B. Treffen der Demokratischen Partei in Chicago, 1968) aber auch Umgarnungsangeboten zu provozieren (siehe den Tunix Kongress Ende der siebziger Jahre). Mit dem Scheitern der undogmatischen Linken und Alternativbewegung ist die Linke dann über mindestens zwei Jahrzehnte auf den Zustand der SPD, d.h. einer rein repräsentativen Auffassung der Demokratie zurückgeworfen. Allerdings wächst gleichzeitig die Skepsis an der faktischen Tragfähigkeit eines reinen volonté des tous, da sich in Form weltweit chronischem Hungers, ökologischer Krise und Notwendigkeit zu Klimaschutzvereinbarung die schon von Rousseau konstatierten Grenzen der Repräsentation neu zeigen.

Interessanterweise orientiert sich gleichzeitig, beginnend in Südamerika, die postkommunistische Linke erneut in Richtung des Gedankens der Konstitution, welche im Kontext eines offenen gesellschaftlichen Diskussionsprozesses ausgehandelt werden müsse. So ist der erste Schritt der Linken in Bolivien, Ecuador, Brasilien und Venezuela nicht der Versuch zur Ergreifung der staatlichen Macht, sondern die Organisation eines Diskussionsprozesses um eine neue Verfassung (hierzu gehört wohl auch die von den Zapatisten iniitierte "andere Kampagne" in Mexiko). Diese umfasst neben allen demokratischen repräsentativen Rechten auch soziale und erkennt im unterschiedlichen Maße auch die Rechte der Natur auf Ko-Evolution an. Eine ähnliche Tendenz zeigt sich in den Versammlungen der Empörten in Spanien, Griechenland und Ägypten, in denen um eine Konstitution gerungen wird, bei fiktiver und faktischer Lösung der Versammelten aus ihren spezifischen gesellschaftlichen Positionen, die im Rahmen der weltweiten ökonomischen Krise im Auflösungsprozess begriffen sind und sich gleichzeitig durch wachsende Globalisierung bzw. Ausgliederung und Neuvernetzung von Produktionsprozessen homogenisieren. Im Gegensatz zur traditionellen linken Bewegung wird die Unterschiedlichkeit der Identitäten aber als Errungenschaft gesehen, das Spielen mit ihnen als Grundlage der Dekonstruktion von Herrschaft und damit als Basis für die Aufhebung der spezifischen Einbindung in die jeweilige gesellschaftlich determinierte Lage (siehe die entsprechenden Kapitel in Hardt/Negri: Commonwealth). Die zumeist in diesen Ländern existierende Repräsentation wird als interessengeleitete Widerspiegelung ökonomischer Macht nicht negiert (wie im Kontext der kommunistischen Bewegung), aber in der existierenden Form als unzureichend bzw. als in der Richtung der Entscheidungsfindung prädisponiert gesehen. Je nach Stärke der jeweiligen Bewegungen wird an einer neuen gesellschaftlichen Verfassung (Bolivien, Ecuador, Venezuela) oder an der Entwicklung von gesellschaftlichen Parallelstrukturen gearbeitet - in Form von freien Gemeinden der indigenen Gemeinschaften in Mexiko, von besetzten Wohnräumen und Verhinderung von Zwangsräumungen in Spanien oder von autonomen Stadtteilzentren und medizinischer Versorgung in Griechenland. Der dagegen einsetzenden staatlichen Unterdrückungsgewalt wird mit dem Konzept der "Blockade" begegnet, ihre negative Auswirkung auf die erkämpften "freien Räume" soll dadurch weitgehend aufgehoben werden, in dem Wissen, dass man die staatliche Unterdrückungsgewalt weder verhindern und noch direkt besiegen kann (Holloway, Die Welt verändern ohne die Macht zu ergreifen).

In diesen postkommunistischen linken Bewegungen geht also um den Prozess der Konstitution eines gesellschaftlichen Rahmens für repräsentative Entscheidungen, so wie er am klarsten in den neuen südamerikanischen Verfassungen zum Ausdruck kommt (siehe die Artikel "Natur in den Verfassungen von Bolivien und Ecuador", http://www.gudynas.com/publicaciones/GudynasPolitischeEcuadorBolivie09.pdf, und "Das gute Leben" http://www.dnr.de/publikationen/umak/archiv/juridikum-2009-4-acosta-buenvivir.pdf). Die Grundlage für die Einsichtsfähigkeit in deren Umrisse basiert theoretisch nicht mehr auf der "Homogenisierung der Arbeiterklasse", wie es in den früheren kommunistischen Bewegungen gesehen wurde (paradigmatisch der maoistischen Uniformierung von Kleidung und Gestus), sondern im Gegenteil - der Vielfalt und nur temporären Wahl von Identität im Kontext einer strukturell nicht mehr oder (in Südamerika) noch nie dominanten industriellen Produktionsweise. Dieser spielerische Umgang mit Identität eröffnet die Möglichkeit, sich in den geistigen Raum zu projizieren, der es emöglicht, quasi interessenslos über die beste Verfasstheit von Gesellschaft zu entscheiden. Wenn es also 2013 um die Frage einer linken Perspektive auf die Postdemokratie geht, dann nicht primär um lokale, zahlenmäßig eng begrenzte demokratische Kleinstrukturen ("Bürgerhaushalt" im Rahmen kommunaler Verfassungen u.ä.), sondern um die Eröffnung einer gesellschaftlichen Debatte um die vernünftige Konstitution, um den Kerngehalt eines volonté générales, in dem per neuem Gesellschaftsvertrag gleichzeitig über demokratische, soziale und Naturrechte verhandelt wird. Die Utopie einer solche Konstitution wäre dann nicht so sehr die demokratischste Weise der Verwaltung gesellschaftlichen Mangels und gesellschaftlicher Ungerechtigkeit (incl. im Umgang mit der Natur), sondern eine gesellschaftliche Verfassung, in der alle demokratischen Rechte garantiert und realisiert sind, aber kaum genutzt werden müssen, weil die freie individuelle Entwicklung aller per Gerechtigkeitspostulat garantiert ist. Insofern spiegelt sich in der Entwicklung des Verhältnisses von Konstitution und Repräsentation im klassischen Sinne die Entwicklung der Produktivkräfte: einerseits als Überwindung von industrieller Homogenisierung und bürgerlicher Verwaltung von Mangel unter dem Primat von gesellschaftlicher Klassenstruktur, andererseits als intellektuelle und soziale Herausarbeitung der Prinzipien einer gute Gesellschaft im Kontext gesellschaftlicher Entwicklung, die diese Erkenntnis und ihre Verwirklichung ermöglicht, nicht aber garantiert.