Diskussion im Linken Forum über die Coronavirus-Krise

März 2020

A:

Die Überschriften „Corona-Krise und Marktwirtschaft“ oder „Wer wird Millionär“

wären passend zum Thema Coronakrise: von Trumps Versuch, die Pharmafirma zu kaufen, bis hin zu den Versuchen, mit Atemschutzmaske viel Geld zu verdienen. Der freie Markt regelt jedenfalls eines: Nicht die angenehmen Personen gewinnen an Reichtum und Macht.

B:

Aber es gibt auch noch andere Meldungen:

.zeit.de/wuhan-coronavirus-quarantaene-ausgangssperre-depressionen-angst-psychische-belastung?

-die-welt-nach-corona-wie-wir-uns-wundern-werden-wenn-die-krise-vorbei-ist

 

C:

... ich finde, die politische Bearbeitung der Coronakrise legt die Annahme nahe, dass die Politik die Ökonomie dominiert.

C:

.... als "objektiver Kern" für die Bestimmung des Grades einer Katastrophe kann die Zahl der Todesopfer gelten.

Gegenwärtig liegt sie laut Robert Koch Institut bei ungefähr 100 in Deutschland. Sie wird beträchtlich steigen. Ob die Zahl der Todesopfer der Grippeepidemie 2018/19 erreicht wird, ist fraglich. Die lag nach Schätzungen, die Franziska Augstein in einer Diskussion wiedergab, bei "bis zu 25 000". Diese Epidemie hat damals das öffentliche Leben wenig beeinflusst. Die Sensibilität gegenüber katastrophenbedingten Todesopfern scheint also gestiegen zu sein. Über die Ursachen dieser Entwicklung ist Vieles zu sagen. Einer der Moralunternehmer ist sicherlich "die Politik". Im Einklang mit "der Bevölkerung" ist es ihr möglich, Maßnahmen durchzusetzen, die den Kapitalverwertungsinteressen nicht dienlich sind.

A:

... wenn du mit der Einschätzung Recht behältst, würde ich mich freuen.

Aktuell sagen aber alle Wissenschaftler, dass die Infektion schwerer verläuft, infektiöser ist und praktisch niemand immun gegen sie ist,

siehe auch coronavirus#what-do-we-know-about-the-risk-of-dying-from-covid-19

Was die Frage des Verhältnisses von Ökonomie und Politik angeht, siehe einerseits die Auswirkung der Finanzkrise auf die Krankenversorgung und dann auf die Sterberate in Südwesteuropa und andererseits den 8-Stunden-Tag, der der Kapitalverwertung ja nicht geschadet hat.

B:

... damit wirfst du die Frage auf, ob die derzeitige Form der Panikmache/Hysterie berechtigt sei.

Wenn diese Panik nicht berechtigt sein sollte, wem dient sie dann? Wo sie doch den ökonomischen Interessen scheinbar zuwider läuft, wie du schreibst. Wer hätte hieran derzeit welches Interesse? Diese Frage ist doch interessant, die können wir doch nicht einfach außer Acht lassen, wenn so viele Staaten hier so stark intervenieren. Hast du hierzu eine Hypothese?

Ich habe untersch. Hypothesen (s. u.) zusammengetragen: z. B. das Interesse der Pharmaindustrie, der Schweinezucht, der Staatsgewalt, der Medien, der Umverteilung ...., aber so richtig überzeugt hat mich das bisher nicht. Zu deiner These: Uli Gellermann titelte heute entsprechend: "Das Lied vom Tod - Wenn Hysterie die Aufklärung ersetzt",

siehe das-lied-vom-tod

andere Hypothesen:

Nafeez Ahmed: Die Corona-Pandemie                                                                                                                                                                                                        Roland Rottenfußer: Die Gesundheitsdiktatur
Hermann Ploppa: Gewollte Hysterie
Nicolas Riedl: Die Virus-Hysterie
Elisa Gratias: Das Angst-Virus
Steffen Pichler: Pest und Corona
Helmut Weiss: Feindpropaganda statt Mitgefühl
Ulrich Gellermann: Merkel will Deutschland schließen
Wolfgang Wodarg: Die Panikmacher
Hannes Hofbauer: Die Virus-Repression
Jens Bernert: Von wegen Pandemie
Hannes Sies: Der virale Kapitalismus
Larry Romanoff: Ignorantes Imperium
Matteo Palo: Epidemie der Gewalt                                                                                                                                                                                                               Ulrich Mies: Chance für die Jugend

C:

... ich glaube nicht, dass die Wahrnehmung oder sagen wir: die Konstruktion dieser Krise Ergebnis der Bemühungen von Gruppierungen ist, die von ihr zu profitieren hoffen.

Sie scheint mir vielmehr - jedenfalls auch - der sich in Deutschland verbreitenden Vorstellung zuzurechnen zu sein, nach der Personen, vor allem deren Körper, sakral sind. Der "Staat" macht sich hier zum Moralunternehmer, der im Einklang mit der Bevölkerung, um deren Loyalität es ihm geht, handelt. Als Krisenmanager bedenkt er z. B. die Nöte der freien Künstler und zahlungsunfähiger Mieter - beschließt Maßnahmen, die man mit Kapitalverwertungsinteressen schlecht erklären kann.

B:

... dies scheint aber doch in anderen Ländern, mit ganz unterschiedlichen Regierungen, auch stattzufinden.

Die deutsche Regierung hatte bereits bei ähnlichen Bestrebungen, die sich z. B. durch Forderungen der Fridays for Future ausdrückten, nicht mit so viel Elan reagiert. Corona war doch noch nicht mal richtig publik, da reagierte die Regierung schon und stellte diese Krankheit bzw. deren Folgen in den Vordergrund. So sehr ich deine abstrakte Sicht auf diese Zusammenhänge schätze, bleibt deine Antwort für mich eher eine Beschreibung, die einer Erklärung entbehrt. Die Frage bleibt - in deinen Begriffen ausgedrückt: Warum macht sich der "Staat" hier zum Moralunternehmer, der als Krisenmanager Nöte von freien Künstlern und zahlungsunfähigen Mietern dahingehend reguliert, dass dies durch Kapitalverwertungsinteressen schlecht zu erklären ist? Wenn Kapitalverwertungsinteressen oder Macht hierbei keine Rolle spielen, was denn dann und warum?

Noch ein Versuch, deine Aussagen zu erfassen: In den USA scheinen sich jetzt "Alte" aufopfern zu wollen, um die Wirtschaft zu erhalten. Drückt sich hierdurch der bewusste Verzicht auf das "Sakrale" aus? Geht es insgesamt um "Humanismus" vs. "Kapitalinteressen"? Und warum schlagen sich die untersch. Regierungen auf die Seite des "Humanismus"? Ist dies schon Ausdruck einer gelungenen, so völlig unerwarteten Revolution?

Du merkst - trotz meines Bemühens - ich habe deine Aussagen bisher wohl nicht richtig entschlüsseln können.

C:

... ich habe mich auf Deutschland beschränkt, weil ich hier ja die Verhältnisse besser kenne als anderswo.

Die Annahme von der "Sakralität der Person", die nicht von mir, sondern von dem Soziologen Hans Joas formuliert wurde, bezieht sich auf die "westliche Welt".

Da bin ich mir nicht mehr so sicher. Unabhängig davon: Beschreibungen und Erklärungen sind nicht immer klar voneinander zu unterscheiden. Warum sich seit einigen Jahren die "Sakralität der Person" verbreitet, weiß ich auch nicht. Ich vermute, es gibt einen Zusammenhang zur Hochschätzung von Individualität und Menschenrechten. Diese Hochschätzung hat wohl zu tun mit dem Siegeszug neoliberaler Politik, die sich wenig für die sozial-ökonomischen Bedingungen, unter denen wir leben, interessiert, wohl aber den Wert einer asozial gedachten individuellen Freiheit hochhält. Spekulationen.

Einen gewissen Erklärungswert hat, denke ich, der Hinweis auf die Loyalitätsabhängigkeit von demokratisch gewählten Regierungen. Das war in den 1960er/70er Jahren ja die These Claus Offes, dass es zwei Motoren staatlichen Handelns gibt: neben den Kapitalvertretungsinteressen eben auch die Neigung, sich der Loyalität der Bevölkerung zu versichern. Die gegenwärtige Situation nun scheint mir dadurch gekennzeichnet zu sein, dass dieser Motor stärker geworden ist. Man traut ihm zu, mehr für die "Sakralität der Person", für die Unversehrtheit des Körpers tun zu können als "das Kapital".

B:

... dann habe ich dich ja vielleicht doch richtig verstanden: Der Staat stellt nicht die Kapitalverwertungsinteressen in den Vordergrund!?

• Eröffnen sich dadurch für uns ganz neue Wege? - oder -

• Müssen wir vielmehr unsere Freiheitsrechte zurückerobern? - oder -

• Uns doch weiterhin vor Corona fürchten und auf Freiheitsrechte verzichten?

Diese neuen staatlichen Strategien führen bei mir - wie du siehst - weiterhin zu erheblichen Irritationen.

D:

... es gibt viele Nachrichten, Fakten, Meinungen, Emotionen, Aufklärerisches und Irrationales etc. etc. zu dem "Corona"-Thema.

Ich habe unabhängig von eigenen Recherchen, die höchst widersprüchliche Sichtweisen auf das aktuelle Geschehen zu Tage förderten, auch von Verwandten, Bekannten und politischen Freundinnen/Freunden eine fast nicht zu bewältigende Flut von Texten, die sich zu den verschiedenen Aspekten der "Coronakrise" äußern, bekommen. Ich denke, wir sollten bei allen ängstlichen Fragezeichen, eine sachlich abwägende, differenzierende und Widersprüche akzeptierende Haltung bewahren. Jede unserer Gedanken, Meinungen, Analysen etc. sind wichtig, aber erst einmal für den Fortgang des nun in Gang gesetzten gesellschaftspolitischen und ökonomischen Prozesses kaum bedeutsam, können also eher ein Beitrag für uns, für unser eigenes Begreifen der Dinge sein. Welche Virolog*innen und Mediziner*innen in der Risikobewertung von "Corona" letztendlich richtig liegen, können wir nicht entscheiden, sondern entscheidet vor allem die Realität in Form der abschließenden Bilanz auf der Basis von Fakten. Die jetzt herrschende Sichtweise/Risikobewertung kann bestätigt werden oder auch nicht.

Womit wir uns aber schon jetzt ernsthaft auseinandersetzen sollten, sind die aktuellen und zukünftigen weltpolitischen, europapolitischen, gesellschaftspolitischen, ökonomischen, sozialpsychologischen, kulturellen und ideologischen Auswirkungen der "Coronakrise". Offen ist: Wird es nun mehr Möglichkeiten für eine sozialökologische (postkapitalistische) Veränderung geben oder eröffnet sich mehr Handlungsspielraum für die gesellschaftlichen Kräfte, die diese Krise so ganz nebenbei schon für einen Feldversuch "Autoritärer Kapitalismus" nutzen bzw. missbrauchen? Es geht um ein recht vielschichtiges Problem/Geschehen...

B:

... deinen Überlegungen kann ich gut zustimmen (ähnlich PD s. u.).

Meine Hoffnung gehört aber der Jugend, die gerade miterlebt, wie wissenschaftliche Überzeugungen als Leitlinien das politische Handeln bestimmen und welche Geschwindigkeit bei deren politischer Umsetzung möglich ist. Solche Erlebnisse müssten doch eigentlich prägend sein, um sich dann zukünftig in entsprechend hohen Erwartungen an die Politik in den untersch. Länder widerzuspiegeln.

Katharina Wiegmann - heute in perspectiv-daily:

"Wie steht es also um Demokratie, Freiheit und Menschlichkeit in Zeiten von Corona? Wird gerade eine neue Stufe des Überwachungszeitalters eingeläutet, wie Michel Foucault vielleicht vermuten würde? Oder nutzen wir die Chancen, die sich uns in der Krise bieten – auch dank der neuen Technologien und des Internets? Legen wir post-Corona andere Maßstäbe an Regierungshandeln an und lassen uns nicht mehr so lange vertrösten, wenn es auf andere Art existenziell wird, weil wir gesehen haben, dass entschlossenes Handeln möglich ist? Achten wir mehr auf ein solidarisches Miteinander, werden uns der direkten und indirekten Folgen unseres Handelns im Alltag bewusster? Noch haben wir es in der Hand – wenn wir vor lauter Händewaschen nicht vergessen, auch den Mächtigen auf die Finger zu schauen. Noch ist es nicht zu spät."

A:

.. das wäre doch viel zu zögerlich und auch in die falsche Richtung zeigend. Jetzt nur abzuwarten und zu sagen, es wird schlechter, kann nicht die (einzige) Aufgabe der Linken sein.

Schaut doch mal, was dieser klar rechte Politiker jetzt macht:

https.heise.de/Britische-Regierung-tritt-mit-dem-umfangreichen-Corona-Gesetz-in-den-Ausnahmezustand-ein

Und da wollen wir jetzt uns auf Demokratie konzentrieren? Nein, es geht politisch um Commons, juristisch um Verstaatlichung. Warum kann man, wenn dieser Artikel denn stimmt, Menschen in Altenheimen einfach allein und unbetreut sterben lassen:

heise.de/Danteske-Szenen-in-Spanien-Alte-Menschen-zum-Sterben-zurueckgelassen

Welche Rolle spielt denn die Privatisierungswelle konkret, wenn es jetzt eine solche Krise kommt? Wann werden wir wieder inmitten der Krise die Möglichkeit haben, das zu thematisieren?
Und welcher Radius bildet denn den Bezugspunkt: doch wieder Deutschland oder wollen wir jetzt mal endlich die nationalen Grenzen verlassen?
Aber auch andere Fragen sind wichtig: Wie wird die übergewichtige, durch Bluthochdruck, kardial geschwächte ältere postfordistische Arbeiterklasse der USA gesundheitlich auf COVID-19 reagieren? Droht da eine massive Sterbewelle, ähnlich wie in Italien? Aus den gleichen Gründen oder sind die unterschiedlich? Und gibt es in den USA auf einmal Gemeinsamkeiten mit den schwarzen verarmten Gruppen, aber keine mit den leichtgewichtigen, durchtrainierten Yippies?
Leute, wir stehen vor der Tatsache einer experimentellen Prüfung, nicht nur von uns selbst, sondern auch vieler unserer Hypothesen.

E:

Ist es nicht einfach so, dass in einer Krise wie der jetzigen die Rolle des Staates als „ideeller Gesamtkapitalist" dominieren muss?

Es wäre für das bestehende System alles andere als funktional, wenn Kleinbetriebe in großem Maßstab in den Bankrott gehen, die Arbeitslosigkeit explodiert und Verelendung sich ausbreitet. In einer solchen Situation genügt es nicht, für optimale Akkumulationsbedingungen der großen Konzerne zu sorgen,- der Staat muss die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Kapitalverwertung sicherstellen. Wird diese Seite staatlichen Handelns noch dazu medial in den Vordergrund gerückt, so mag leicht der Eindruck entstehen, die Politik dominiere nunmehr die Ökonomie oder rücke die „Sakralität der Person" ins Zentrum ihrer Bestrebungen.

B:

... so werden bei den Briten Grund- und Freiheitsrechte schon mal langfristig einkassiert...

... Spanien scheint bei der Eindämmung von Corona zu scheitern. Deutschland schnürt Hilfspakete für Betriebsrettungen und sucht nach Schutzkleidung, damit die Beschäftigten in der Pflege nicht zu frühzeitig an Corona zugrunde gehen. Die Toten werden klassifiziert nach Alter und Gesundheitszustand, nicht nach Einkommen und Lebenslage. Nachdem ich früher angeblich die Banken retten wollte, will ich nun scheinbar die deutsche Wirtschaft retten?! Und Europa und die Linke - gibt die eigentlich noch?

Du hast schon recht, XXX, Verstaatlichung und Commons liegen mir da weitaus näher, auch die Differenzierung nach Klasse/Schicht entspricht meinem Denken eher als die nach zu rettenden Betriebsgrößen. Und doch geht es mir wieder so, wie schon zur Zeit der Finanzkrise: Die Informationen sind so verwirrend, so vielfältig, so schwierig abzuschätzen ... . Und es fehlt sicher auch wieder der Mut, der notwendig ist, Transformationsprozesse in diesen turbulenten Zeiten zu fordern und umzusetzen. Aber es spricht so gar nichts dagegen - genau das jetzt zu tun - weltweit!

A:

Mir ging es eigentlich um zweierlei in den beiden Artikeln auf Telepolis:

Johnson legt ein Programm vor, das Verstaatlichung, Mindestlohn etc. vorsieht, d. h. explizit linke Inhalte, während wir darüber streiten, was man überhaupt tun könnte und darf.
In Spanien verlassen die Mitarbeiter privater Altenpflegeheime diese (oder es gibt keine mehr, weil alle krank sind) und die Betreiber der Heime kümmern sich um nichts. Was funktioniert, ist der öffentliche Dienst.
Insgesamt schotten sich die Länder Europas ab und wir diskutieren über Menschlichkeit?
Ich sehe chinesische, kubanische und russische Ärzte in Italien, nicht aber deutsche, dänische, schwedische und keine Linke, die sagt: Jetzt ist der Zeitraum, das selbe öffentliche Gesundheitswesen in ganz Europa zu etablieren und die Menschen auf die Einrichtungen aufzuteilen.
Sorry, dass ich immer meckere, aber ich kann aktuell nicht anders.