Definition:

Alle sollen, unabhängig von Bedürftigkeit und unabhängig vom Zwang zur Lohnarbeit, ein existenzsicherndes
Einkommen erhalten.



Das bedingungslose Grundeinkommen fordert das uneingeschränkte Recht auf eine angemessene ökonomische
Lebensgrundlage für alle als Grundrecht. Das bedingungslose Grundeinkommen öffnet das Tor zu einer nachkapitalistischen Gesellschaft.

I. Die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse:

1. Industriegesellschaft Dienstleistungsgesellschaft

Eine wichtige Voraussetzung für eine fruchtbare Debatte ist, dass wir die Veränderungen in den gesellschaftlichen
Verhältnissen der letzten 30 Jahre zur Kenntnis nehmen und analysieren. In den industrialisierten
Ländern arbeiten vielleicht noch 20 bis 25 Prozent aller Beschäftigten in Fabriken im klassischen
Sinne, und auch die lösen sich durch Auslagerung, Scheinselbständigkeit und Leiharbeit weiter auf. Die
meisten Beschäftigten arbeiten im Dienstleistungssektor, im Handel, in Banken, in Versicherungen. Es
gibt keinen Normalarbeitstag mehr, Raum und Zeit lösen sich auf, wie Altvater so treffend beschrieben
hat. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung verschwindet, wenn auch nicht in der Bezahlung und Hierarchie,
so doch in der Bedeutung für die Reproduktionssphäre, also für Hausarbeit, Kindererziehung,
Pflege, Versorgung, Ernährung, etc. Diese Entwicklungen werden auch als nachfordistische Verhältnisse
bezeichnet.

2. Wachsender Reichtum – größere Armut

Verschlechterung der Situation großer Bevölkerungsschichten durch Lohnsenkungen, Auflösung von
Tarifverträgen, Scheinselbstständigkeit, Werkverträge, Leiharbeit, etc.
Methoden der absoluten Mehrwertproduktion werden wieder profitabel: Verlängerung der Tages,
Wochenund Lebensarbeitszeit verbunden mit weiterer Flexibilisierung stehen auf der Tagesordnung.

3. „Die Fabrik löst sich in die Gesellschaft auf“

Bezahlte Erwerbsarbeit stellt nur einen Teil der gesellschaftlich geleisteten Arbeit dar. Die Grenzen zwischen
Erwerbsarbeit und Privatsphäre oder sogenannter Freizeit, wie sie im Fordismus klar gezogen
waren, verschwimmen und verschwinden. Toni Negri hat dafür den Ausdruck geprägt: Die Fabrik löst
sich in die Gesellschaft auf. Andre Gorz spricht sogar von der Auflösung des Wertgesetzes, weil erstens
in wachsendem Maße auch diejenigen sozialen und kulturellen Fähigkeiten und Beziehungen der Menschen
für die Produktivität des gesamtgesellschaftlichen Produktionsprozess notwendig werden, die nicht
unmittelbar zur beruflichen Qualifikation der Ware Arbeitskraft zählen, womit Arbeitsvorgänge weder
quantitativ noch qualitativ exakt messbar bleiben, und weil die Höhe des Verkaufspreises und damit des
realisierten Profits bei immer mehr Waren weniger über den Wert als vielmehr über das Logo und seine
ideologische Bedeutung bestimmt wird

4. „Richtige“ Arbeit – „Meta“Arbeit – „Netzwerk“Arbeit

Die Bewertung von Erwerbsarbeit als „richtiger Arbeit“ und aller anderen Tätigkeiten als nicht bedeutend
wird brüchig. Die Lebensbiographien der Menschen spiegeln diese Auflösung wider: Wir erleben eine
Verkürzung der Planungsperspektiven, die ausgeübten Tätigkeiten erscheinen vorläufig, Umsatteln und
Tätigkeitswechsel werden alltäglich. Diese Auflösung normaler Erwerbsbiographien erfordert eine neue
Arbeit, eine quasi Metaarbeit oder „Netzwerkarbeit“, um Einkommen und Arbeit, um Leben und Überleben
zu organisieren.

Für viele wird dadurch in ihrer täglichen Erfahrung sichtbar, dass Arbeit nicht mit Erwerbsarbeit gleichzusetzen
ist. Zentral ist in diesem Zusammenhang sicherlich die Auseinandersetzung um die Rolle (und
Bezahlung) der Hausarbeit und das Verhältnis vonPatriarchat und Erwerbsarbeit, welche die Frauenbewegung
in den 1970er Jahren in Gang gesetzt hat.
Es sind Tätigkeiten, die mit menschlichem Leben notwendig verbunden sind und immer getan werden
müssen wie Hausarbeit, Kindererziehung und Pflege sowie Tätigkeiten, die wir zur gesellschaftlich notwendigen
Arbeit im emphatischen Sinne zählen, wie die Arbeit in NGOs, Kirchen, Vereinen, Parteien und
Kultur.

5. Kompetenz, Souveränität, Eigenverantwortung

Die Veränderung der Arbeit bedeutet damit auch die Rückgabe von Kompetenzen, Verantwortung und
Eigenverantwortung. Teamfähigkeit, Gruppenarbeit, Selbständigkeit sind die Stichworte. Daraus resultiert
für viele – und sei es nur als subjektiv erlebter Schein – mehr Unabhängigkeit, Zeitsouveränität und Freiheit
sowie größere Verantwortung, deren Erfüllung in einer Mischung aus Stress und Souveränität als
äußerst befriedigend erlebt wird.

6. Marktzwänge – freie Tätigkeit

„Der Zusammenbruch der strikten Trennungen und Grenzen, die die fordistische Ordnung bestimmten,
die Wiedergewinnung von Kompetenzen, Wissen und Souveränität durch neue Arbeitsund
Wissensformen, auch wenn sie im Netz des Kapitalverhältnisses eingespannt sind, diese alltäglich zu machenden
Erfahrungen eröffnen die Chance, die Lohnarbeit als besondere historische Form der Arbeit zu erkennen.
Die Kehrseite, das Bedürfnis zur freien Tätigkeit, jenseits von Marktzwängen, aber vor allem
auch jenseits des Zwangs, Erwerbsarbeit leisten zu müssen, kann in die Forderung nach einem Grundeinkommen
münden. Damit ist auch die Frage beantwortet, [...] welches Subjekt denn das Grundeinkommen
verwirklichen solle: all jene, die praktisch erfahren haben, dass befriedigende Tätigkeit (Arbeit)
nicht mit Erwerbsarbeit identifiziert werden muss.“ (Karl Reitter: Garantiertes Grundeinkommen jetzt! In:
grundrisse. zeitschrift für linke theorie & debatte, Nr. 12)

„Die Ungewissheit des nächsten Tages lässt eine andere gesellschaftliche Existenz denkbar erscheinen.
Wenn die ökonomische Verwertung der momentan ausgeübten Tätigkeit unsicher ist oder nur zum Teil
entgolten wird, wenn die eigene soziale Existenz morgen ganz anders aussehen kann, dann enspricht
das garantierte Grundeinkommen durchaus den postmodernen Erfahrungen. Grundeinkommen bedeutet,
jede Tätigkeit als gesellschaftlich sinnvolle Arbeit anzuerkennen, die drückende Unsicherheit Nachfordistischer
Lebensverhältnisse einzudämmen und mehr Freiräume zu schaffen. Das Grundeinkommen
setzt in der Sphäre vor der eigentlichen Erwerbsarbeit an, das ist ein gewaltiger Vorteil gegenüber einer
Ausrichtung, die den geglückten Eintritt in diese Sphäre zur Voraussetzung hat.“ (ebenda)

II. Bedingungsloses Grundeinkommen als strategische Forderung

1. Die weiterreichende Bedeutung von Arbeitslosigkeit

Aber die Erwerbslosigkeit hat noch eine tiefergehende, gesellschaftliche Dimension: Die Arbeitslosigkeit
ist der Spiegel der Arbeit. Arbeit tritt uns als Arbeitslosigkeit sozusagen in reiner Form entgegen. Arbeitslosigkeit ist also das Terrain, auf dem der Konflikt um die Definition von Arbeit aufbrechen muss und aufbricht.

Es heißt ja auch „arbeitslos“, nicht erwerbslos,nicht einkommenslos:

Egal wie emsig wir als Erwerbslose auch tätig sein mögen, wir arbeiten per definitionem nicht. Tätigkeit jenseits der Erwerbsarbeit, jenseits des Kapitalverhältnisses gilt nichts, ist ideologisch gar nicht vorhanden. Obwohl die Entwicklung des Kapitalismus selbst die historischen Schranken der industriellen Arbeit im traditionellen Sinne sprengt und die Fähigkeiten und Möglichkeiten menschlicher Tätigkeit weiterentwickelt und sich aneignet, bleibt dabei doch der Warencharakter der Arbeit gesellschaftlich allein bestimmend. Obwohl also in dem Maße, wie
der ganze Mensch in die Produktion des gesellschaftlichen Reichtums eingebunden wird, auch die gesamte
Gesellschaft zum produktiven Zusammenhang, die „Weise des Zusammenwirkens (...) selbst eine
Produktivkraft“ wird, wie Marx sagt, wird eine wachsende Zahl von Menschen auf der ganzen Welt von
einer Bezahlung ihrer Tätigkeiten ausgeschlossen, werden ihnen die notwendigen Mittel für die Sicherung
ihrer Existenz vorenthalten. Dabei würde der produzierte Reichtum inzwischen bei weitem für ein
gutes Leben für alle Menschen auf der Welt reichen. Das bedeutet, dass die historisch besondere Form
der Lohnarbeit zu eng für das Existenzrecht aller Menschen geworden ist.

2. Welche Forderungen enthalten welche Perspektiven

• Welche Forderung enthält also eine Perspektive, Lohnarbeit als spezifisch historische, überwindbare
Form der Arbeit erkennbar zu machen, um ihren Stellenwert zu relativieren und Alternativen sichtbar
zu machen?

• Welche Forderung kann dabei gleichzeitig an Erfahrungen mit den Bedingungen, der Bezahlung und
der gesellschaftlichen Anerkennung der eigenen Arbeit anknüpfen und positive Erwartungen, Vorstellungen
und Hoffnungen mobilisieren?

• Welche Forderung würde im Zuge ihrer gesellschaftlichen Umsetzung Erfahrungen jenseits der Erwerbsarbeit
ermöglichen, die für eine Alternative zum System der kapitalistischen Lohnarbeit so dringend
notwendig sind?

Der Forderung nach einem BGE werden alternativ die Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung und Mindestlohn
gegenübergestellt, und deshalb müssten wir diese Fragen natürlich gleichermaßen an diese
Forderungen stellen. Darauf werden wir sicherlich im nachfolgenden Vortrag Antworten erhalten.

3. Entkoppelung von Arbeit und Einkommen oder Vergesellschaftung der Produktionsmittel?

Ein wesentlicher Einwand von links gegen die strategische Bedeutung eines BGE lautet, dass es nur in
die Sphäre der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums eingreifen will und die eigentlich bestimmende
Sphäre der kapitalistischen Produktion, das Privateigentum an Produktionsmitteln, nicht angreift.
Während die Arbeitslosen also zufriedengestellt auf der faulen Haut lägen, könnte der Kapitalismus sich
ungestört um so schlimmer austoben. Einmal abgesehen von der Frage, ob eine Entkoppelung des Einkommens
vom Zwang zur Lohnarbeit durch die damit verbundene Auflösung des Warencharakters der
Arbeit nicht mittelbar Auswirkungen auf die kapitalistische Produktion von Waren und Dienstleistungen
hätte, sind doch mit dieser Kritik eine ganze Reihe von wesentlichen Problemen linker Utopien angesprochen:

• In welche andere gesellschaftliche Form sollen die Produktionsmittel überführt werden?
• Wer soll diese Überführung auf welchem Wege (z.B. mit welchen Forderungen) bewerkstelligen?
• Bedeuten andere Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln per se die Aufhebung von Lohnarbeit?
• Bedeuten sie eine garantierte Existenzsicherung für alle Menschen, Selbstbestimmung, freie Entfaltung
von Bedürfnissen und Fähigkeiten?

Die historischen Erfahrungen mit der SU, der DDR und China schließen – hoffentlich – bestimmte Konzepte
staatssozialistischer Planung aus. Das BGE formuliert kein Modell als klares Ziel oder als Ersatz
für staatsoder planwirtschaftliche Konzepte. Aber es beinhaltet einige Prinzipien, die wichtig für die
Emanzipation des Menschen von kapitalistischer Lohnarbeit und damit hoffentlich wesentliche Bestandteile
einer neuen linken Utopie sein können:

4. Einige Prinzipien eines bedingungslosen Grundeinkommens

• Das BGE setzt am gesellschaftlichen Status der Arbeitskraft an; es greift damit das menschliche Bedürfnis
nach gesellschaftlicher Betätigung auf. Die Arbeit soll von den Zwängen der kapitalistischen
Lohnarbeit befreit werden und damit wieder oder erstmals ihre schöpferische, kreative, künstlerische
und lustvolle Gestaltungskraft gewinnen.

• Das BGE setzt (vor oder neben der Verstaatlichung von großen Industrieunternehmen) darauf, Freiräume
zu schaffen für die Entwicklung von sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Kompetenzen,
Bedürfnissen und Beziehungen der Menschen, was die Übernahme von Betrieben durch die Beschäftigten
durchaus beinhalten soll, Beispiel Venezuela.

• Das BGE ist als individuelles Grundrecht für die Freiheit des Individuums formuliert und knüpft damit
an das bürgerliche Recht und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit an. Das geschieht in bewusster Abgrenzung
zur Macht und Gewaltausübung zentralistischer und despotischer Regierungen in staatssozialistischen
Gesellschaften, die abstrakte Zielvorgaben staatlich geplanter Produktion nicht selten
höher bewerteten als das Leben der Bevölkerung und in denen von individuell garantierten Anteilen
am gesellschaftlichen Produkt, geschweige denn von freier Entfaltung der Bedürfnisse und Fähigkeiten
der Menschen nie die Rede war.

• Es wird weiterhin als individuelle Garantie auf Konsum in maximal möglicher Höhe durch Rechtsanspruch
formuliert – aus der historischen Einsicht, dass individuelle Anteile am gesellschaftlichen
Reichtum in produktiven gesellschaftlichen Zusammenhängen nicht ausrechenbar sind, weil eine
streng objektivierbare Arbeitszeitmessung unmöglich ist.

• Das BGE ist für die Erwerbslosen die einzige Forderung, die sich direkt auf ihre Situation bezieht und
die nicht repressiv ist. Mindestlohn und Arbeitszeitverkürzung ändern an der Situation der Erwerbslosen
erst mal gar nichts. Und eine bedarfsorientierte Grundsicherung haben wir mit Hartz IV bekommen.
Bedürftigkeitsprüfungen und der Zwang zur Annahme jeder Arbeit beinhalten per se eine institutionalisierte
entwürdigende Behandlung von Menschen durch andere Menschen. Solche Ämter
sind nicht nur menschenverachtend und demütigend für die Opfer, sondern sie produzieren in vielen
ihrer Mitarbeiter autoritätshörige bis sadistische Untertanen mit ausgeprägter Schergenmentalität.

• Das BGE schafft Freiräume für politische Betätigung. Der totalitäre Zwang zur Arbeit fürs Überleben
durch die neoliberale Auflösung sozialstaatlicher Absicherung hat – wenn nicht sogar beabsichtigt –
so doch implizit den Widerstandsbewegungen seit Ende der 1970er Jahre nach und nach die soziale,
kulturelle und intellektuelle Basis entzogen. Das Ergebnis ist heute am Zustand der Bewegungen
schmerzlich zu erfahren... Ein Grundeinkommen kann auch die Bezahlung organisierten Widerstands
bedeuten. Die gesellschaftliche Stärke und Bedeutung der AntiAKW
und Alternativbewegung der 1970er und 1980er Jahre war auch Produkt abgesicherter Arbeitslosigkeit und damit neuer Erfahrungen mit Arbeit und Einkommen. Genau das haben die intelligenteren Sozialdemokraten wie Glotz erkannt. Sozialabbau hatte deshalb auch immer die Funktion, die materielle Basis für neue Erfahrungen von Arbeit und Widerstand systematisch zu zerstören. Die Forderung nach einem Grundeinkommen beinhaltet also die Forderung,
endlich in Ruhe und ohne Existenzangst politisch arbeiten zu können.

• Das BGE konfrontiert mit der Angst vor der eigenen Utopie, weil es konkrete Schritt dahin, die hier
und jetzt gegangen werden könnten und die etwas mit einer realen Veränderung der eigenen Lebensverhältnisse
zu tun haben, einfordert. Es ist auf jeden Fall bemerkenswert, warum der große Teil
der Befürworter eines BGE selbst erwerbslos oder in irgendeiner Weise prekär beschäftigt ist, während
die schärfsten Kritiker aus dem gewerkschaftlichen Lager der fest Beschäftigten kommen.

Diejenigen Linken, die gesellschaftlich fest verankert sind durch ihren Beruf und ihr Einkommen, sind
noch links, weil für sie das moralische Postulat gilt, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse falsch
sind, solange es Ausbeutung, Unterdrückung, Hunger und Krieg auf der Welt gibt. Die Zufriedenheit
mit der eigenen materiellen und oft auch beruflichen Lebenssituation wiegt jedoch schwer, wenn es
darum geht, sie für etwas aufs Spiel zu setzen: Die Alternative muss schon gut und überzeugend und
vor allem auch recht sicher sein. Niemand setzt leichtfertig einen relativ zufriedenen Status für eine
ungewisse Zukunft aufs Spiel. Der Antrieb, für eine bessere Gesellschaft zu kämpfen, der sich in der
ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts für Intellektuelle und Bürgerliche weniger aus der Verelendung
als vielmehr aus der Aussicht auf weitere Verbesserung speiste, ist durch den unermesslichen Reichtum
des kapitalistischen Warenangebots weggefallen. Materiell und vielleicht sogar technologisch ist
der Kapitalismus nicht mehr zu toppen. Und trotz aller Einsicht in die Unmöglichkeit, diese Form des
Reichtums für alle Menschen gleichermaßen zugänglich zu machen, fällt der eigene Verzicht darauf
schwer, und die Aussicht auf Verzicht ist ein schlechter Antriebsgrund für Veränderung. Vielleicht
spielt ja bei der Häme, Verächtlichkeit und Arroganz, mit der oft Alternativen, Aktionen, Bewegungen
und praktische Veränderungen gerade im linken Feuilleton beurteilt werden, dieser Hintergrund eine
gewisse Rolle.

Der folgende Teil wurde nicht am 11.02.2007 vorgetragen und enthält vielleicht einige Wiederholungen.

III. Die Kritik am bedingungslosen Grundeinkommen

Die Kritik am bedingungslosen Grundeinkommen lässt sich grob zweiteilen:

1. Das BGE ist ein neoliberales Projekt (Milton Friedman)
Die Debatte um eine negative Einkommenssteuer fand in den 1960er Jahren in den USA vor dem Hintergrund
der AntiVietnamund Studentenbewegung statt und war eher ein demokratischreformerisches
als ein neoliberales Projekt, auch wenn Milton Friedman es in der Variante mit einem sehr geringen Einkommen
unterstützt hat. Im Zeitraum von 1968 bis 1976 fanden vier Experimente in den USA und eins in
Kanada zur negativen Einkommenssteuer mit unterschiedlichen Bedingungen und sehr geringen Teilnehmerzahlen
statt. Allgemeiner Tenor der Auswertungen war, dass kaum allgemeine Schlüsse gezogen
werden konnten. Allerdings: Die Scheidungsrate stieg, die Schulleistungen der Kinder verbesserten sich
und die Menschen blieben länger arbeitslos, wenn sie ihren Job verloren hatten. Das Thema negative
Einkommenssteuer wurde in den folgenden Jahren von den Rechten ad acta gelegt und durch die bekannten
workfareProgramme ersetzt.

Die Funktionen eines Grundeinkommens aus neoliberaler Sicht sollen sein:

a) Kostensenkung
Schon die neoliberale Variante mit sehr geringer Höhe bedeutete gegenüber dem heutigen System eine
Steigerung der Ausgaben für Sozialtransfers.

b) Zwang in prekäre Arbeit
Eine möglichst geringe Höhe soll die Erwerbslosen in prekäre Arbeitsverhältnisse zu zwingen. Diese
Funktion erfüllt Hartz IV allerdings schon heute, wie die Entwicklung prekärer Arbeitsverhältnisse eindrucksvoll
dokumentiert. Wer also etwas gegen das Grundeinkommen hat, weil es in prekäre Beschäftigung
zwingt, der müsste also genauso etwas gegen Hartz IV haben. Gewerkschaftlich orientierte Linke
kämpfen aber nicht gegen Hartz IV, sondern sie favorisieren dagegen Mindestlohn und Arbeitszeitverkürzung.

c) Rückzug des Staates aus der Gesellschaft
Es sollte uns zu denken geben, dass es keinerlei ernsthafte relevante Aktivitäten von rechter Seite gibt,
ein BGE durchzusetzen. So richtig die These von der Deregulierung gesellschaftlicher Verhältnisse sein
mag, einen Rückzug des Staates hat es in allen neoliberalen Umstrukturierungen bisher nicht gegeben,
sondern Umschichtung vom Sozialen zur Wirtschaftsförderung und Infrastruktur. ln vielen neoliberal regierten
Ländern ist die Staatsquote eher gestiegen. Und für den Bereich der Arbeitsmarktpolitik und verwaltung
gilt: Die Gesetzesund Regelungswut auf dem Arbeitsmarkt war nie größer als aktuell durch die
HartzGesetze.

Je mehr Menschen für die kapitalistische Profitmaschinerie überflüssig werden, desto höher
ist nämlich der Druck, das System der Lohnarbeit zu legitimieren und die Schuld an ihrer Erwerbslosigkeit
den Betroffenen selbst zuzuweisen. Und wir sehen, wie erfolgreich diese Form gesellschaftlicher
Regulierung funktioniert. Niemand kann ernsthaft glauben, dass ausgerechnet die Neoliberalen das
Recht auf Einkommen von der Bereitschaft zur Lohnarbeit abkoppeln wollten.

Aber die vermeintliche Opposition gegen den Neoliberalismus aus Sozialdemokraten, Gewerkschaften
und Kirchen erst recht nicht: Sie hat mit Hartz IV Armut und gesellschaftliche Ausgrenzung für Millionen
Menschen festgeschrieben. Sie hat damit selbst hergestellt, dass die Betroffenen inzwischen bereit sind,
auch den letzten Scheiß zu machen, um bloß nicht in Hartz IV zu müssen. Und sie stellen sich jetzt hin
und sagen: Seht doch, ohne Lohnarbeit geht es den Leuten schlecht. Wir dürfen sie nicht ohne Lohnarbeit
lassen. Und wenn wir ihnen stattdessen EinEuroJobs geben, tun wir ihnen noch einen Gefallen.
Es ist nicht die Angst vor den Neoliberalen, die ihren Einspruch gegen ein Grundeinkommen antreibt, es
ist die Angst vor der Einsicht, dass Massenerwerbslosigkeit das System der Lohnarbeit in Frage stellt und
dass mit einer Entkoppelung von Arbeit und Einkommen auch die Loyalität zum kapitalistischen Vergesellschaftungsmodell in Frage gestellt werden könnte.

d) Das Grundeinkommen schickt die Frauen wieder zurück an den Herd Dazu sollen die Frauen besser selbst etwas sagen.

2. Das BGE ist eine falsche Strategie zur Überwindung von Erwerbslosigkeit und Kapitalismus

a) Ein BGE überlässt die Betroffenen auf Dauer ihrem zerstörerischen Schicksal, und es dient der Befriedung
der Erwerbslosen Entweder zerstört Erwerbslosigkeit die Menschen, dann müssen sie nicht befriedet werden. Beide Argumente können nicht sinnvoll zusammen vorgetragen werden. Wenn Erwerbslosigkeit die Menschen aber
so kreativ, rebellisch oder sonstwie gefährlich werden lässt, dass sie befriedet werden müssen, dann
würde ein Grundeinkommen an der Ursache ihrer Rebellion, an ihrer Erwerbslosigkeit ja nichts ändern.
Also: entweder ist es die fehlende Lohnarbeit, die die Leute aufbringt, daran würde ein Grundeinkommen
sie nicht befrieden können, weil es keine Lohnarbeit schafft; oder es ist das fehlende Geld, dann wäre
aber nicht die fehlende Lohnarbeit zerstörerisch, sondern eben das fehlende Geld. Und wenn die Leute
sich durch mehr Geld befrieden lassen, dann soll es uns auch recht sein. Mir jedenfalls sind zufriedene
Erwerbslose allemal lieber als zerstörte Menschen.

b) Das Grundeinkommen ist eine Aussteigerprämie

Peter Glotz 1986: „390 Mark sind zu wenig; aber für 800 sind wir bereit, euch und eurem ganzen gräßlichen
Arbeits und Wirtschaftssystem den Rücken zu kehren und euch in Frieden zu lassen.“
Weder beinhaltet das Grundeinkommen den Zwang, auf Lohnarbeit und Karriere zu verzichten, noch hindert
es irgendjemanden daran, sich beispielsweise weiterhin antikapitalistisch zu betätigen. Im Gegenteil:
Der totalitäre Zwang zur Arbeit fürs Überleben durch die neoliberale Auflösung sozialstaatlicher Absicherung
hat – wenn nicht sogar beabsichtigt – so doch implizit den Widerstandsbewegungen seit Ende
der 1970er Jahre nach und nach die soziale, kulturelle und vor allem intellektuelle Basis entzogen. Das
Ergebnis ist heute am Zustand der Bewegungen schmerzlich zu erfahren... Ein Grundeinkommen kann
auch die Bezahlung organisierten Widerstands bedeuten. Die gesellschaftliche Stärke und Bedeutung
der AntiAKW und Alternativbewegung der 1970er und 1980er Jahre war auch Produkt abgesicherter Arbeitslosigkeit
und damit neuer Erfahrungen mit Arbeit und Einkommen. Genau das haben die intelligenteren Sozialdemokraten wie Glotz erkannt. Sozialabbau hatte deshalb auch immer die Funktion, die materielle Basis für neue Erfahrungen von Arbeit und Widerstand systematisch zu zerstören. Die Forderung nach einem Grundeinkommen beinhaltet also die Forderung, endlich in Ruhe und ohne Existenzangst politisch arbeiten zu können.

c) Ein BGE lässt sich im Kapitalismus nicht finanzieren

Es wird nicht, wie es fair wäre, die Finanzierbarkeit und Realisierbarkeit von Wirtschaftswachstum und
Vollbeschäftigung denen eines Grundeinkommens gegenübergestellt – wobei deutlich würde, dass kapitalistisches
Wachstum erstens niemals mehr zu Vollbeschäftigung führen wird und zweitens bereits heute
ein Ausgleich auch nur der kurzfristigen katastrophalen Folgen des Kapitalismus für Menschen und Umwelt
schon nicht mehr zu finanzieren ist. Sondern es wird die empirische Realität des kapitalistischen
Weltsystems in seiner normativen Faktizität dem politischen Wollen von etwas anderem gegenübergestellt
und damit versucht, dieses andere lächerlich zu machen. Ein Grundeinkommen für alle Menschen
erscheint gegenüber der kolossalen Dampfwalze des globalen Kapitalismus einfach unmöglich. Aber tatsächlich
ist Vollbeschäftigung für alle Menschen auf der Welt auf der Basis weiteren kapitalistischen Wirtschaftswachstums
unmöglich; ein Grundeinkommen für alle Menschen auf der Welt hingegen lässt sich
bereits heute materiell darstellen und ausrechnen. Das Argument der Finanzierbarkeit ist deshalb in
Wahrheit ein Angriff darauf, dass Menschen überhaupt noch den Anspruch auf politische Willensäußerung
erheben, ein Angriff darauf, dass überhaupt noch jemand laut sagt, das muss doch auch anders zu
gestalten sein, als über den Markt. Die Forderung nach einem Grundeinkommen ist damit nicht nur Ausdruck
politischen Wollens gegen die vermeintliche Alternativlosigkeit des Faktischen, sondern es unterscheidet
sich von allen reformerischen und sozialdemokratischen Forderungen in den Maßnahmen und
Methoden, und vor allem durchbricht es mit seinen Zielen den herrschenden Konsens.

d) Statt für das BGE sollte für Mindestlohn und Arbeitszeitverkürzung gestritten werden

Zum Thema Gewerkschaften und Arbeitszeitverkürzung braucht zur Zeit nichts gesagt zu werden – das
Thema ist so gut wie tot. Ob die Gewerkschaften und Sozialdemokraten tatsächlich einen gesetzlichen
Mindestlohn in einer Höhe durchsetzen (wollen), die nicht prekäre Beschäftigung befördert, sei dahingestellt.
Wie auch immer: Auch ein Mindestlohn schaffte keine Vollbeschäftigung, und das menschenunwürdige
Hartz IV und damit der Druck zur (Billig) Lohnarbeit bliebe für Millionen Menschen bestehen.
Und das sollen alle gewerkschaftlichsozialdemokratisch Linken doch dann bitte auch offen aussprechen:
dass sie gegen Hartz IV für Arbeitslose und den Zwang zur kapitalistischen Lohnarbeit für alle nichts
einzuwenden haben!

Anstatt auf diese Weise Erwerbslose und Beschäftigte über den Zwang zur kapitalistischen Lohnarbeit zu
spalten, schlägt die Forderung nach einem ausreichenden garantierten Grundeinkommen eine solidarische
Brücke zwischen Erwerbslosen und Beschäftigten: Es nimmt den finanziellen und gesellschaftlichen
Druck von den Erwerbslosen und ist gleichzeitig ein gesetzlicher Mindestlohn für die Beschäftigten.
Der Druck der industriellen Reservearmee auf die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften ist gebrochen,
gegen Lohndruck und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen kann auf einer soliden Basis gekämpft
werden. Und wer nicht dafür arbeiten will, dass andere nicht arbeiten, kann ja einfach aufhören zu arbeiten.

d) Das BGE spaltet Beschäftigte und Erwerbslose

Das BGE ist ein ungerechtes Modell, weil es voraussetzt, dass die einen arbeiten müssen, damit die
anderen nicht zu arbeiten brauchen. In jeder Gesellschaft muss aber für die Herstellung der notwendigen
Güter und Dienstleistungen gearbeitet werden, also muss sich auch jeder an dieser Arbeit beteiligen.
Das ist in der aktuellen Debatte die These, die man häufigsten hört – wahrscheinlich weil sie so schön
einfach und eingängig ist. In der Tat ist es eine starke These:

Ich behaupte, dass über 90 Prozent derjenigen, die diese These vertreten, männlich sind und einen relativ
festen Arbeitsplatz haben, und dass noch einmal 90 Prozent dieser Männer entweder keine eigenen
Kinder haben oder sich nur in sehr geringem Maße an der der damit verbunden Erziehungsund
Hausarbeit beteiligen. Denn in dieser These steckt die Behauptung, dass nur Erwerbsarbeit „richtige Arbeit“
sei, dass nur Erwerbsarbeit als Arbeit überhaupt gesellschaftlich zählt.

Es steckt weiter darin, dass Einkommen ohne Arbeit für Kapitalisten, Aktienbesitzer, shareholder, Börsenspekulanten,
Erben und Adelige in Ordnung ist; für alle, die ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen müssen,
aber nicht.

Es steckt darin, dass der Zwang zur Lohnarbeit für alle gelten muss, solange es die kapitalistische Wirtschaft
gibt, auch wenn bezahlte Erwerbsarbeit nicht für alle angeboten werden kann, dass ein Existenzrecht
der Erwerbslosen ohne Lohnarbeit in Frage gestellt wird und sie mit dem Entzug ihres Existenzminimums
bestraft werden müssen, wenn sie sich nicht bereit erklären, Lohnarbeit zu verrichten, obwohl
es die für alle gar nicht mehr gibt.

Es steckt darin, dass sich Alternativen zur kapitalistischen Erwerbsarbeit nicht bereits im Kapitalismus
selbst entwickeln dürfen, können oder sogar müssen, sondern dass es eine Alternative zur kapitalistischen
Arbeit nur auf einen Schlag, von einem Tag auf den anderen geben kann.
Es steckt darin, dass die Arbeit und das Leben nach diesem Tag genauso weitergehen soll wie vorher.
Denn wie nach dem Tag X die Arbeit in den Betrieben organisiert und verteilt werden soll, wie die Arbeit
gesellschaftlich organisiert und verteilt werden soll, wie das Produkt der Arbeit verteilt werden soll, nach
welchem Maßstab jeder seinen Anteil am gesellschaftlichen Produkt erhalten soll, welche Arbeit dafür
wieviel zählt – all das kann dann nur genauso weitergehen, wie vorher, denn es gibt kein Modell, kein Experiment,
keine Erfahrung von Alternativen, auf die man zurückgreifen könnte. Und eine Neuauflage des
realen Sozialismus a la Sowjetunion, DDR oder China wollen wir doch alle nicht, oder?

Michael Bättig, Februar 2007