Helmut R.:

Hegemonie und Konsumentenverhalten

Eine Untersuchung über das Verhältnis von Hegemonie und Konsumenten­verhalten, u. a. durch direkte ökonomische Beeinflussung (Reklame, Leit­bilder, Konsumnormen etc.) bzw. die Auswertung vorhandener Untersu­chungen wäre schon sehr wichtig, braucht aber wahrscheinlich viel Zeit und Arbeit. Deshalb werden hier nur einige Gesichtspunkte angesprochen, die wahrscheinlich noch kein abgerundetes Gesamtbild ergeben.

 

Zunächst ist noch etwas zum Verhältnis zwischen Konsum und Religion in Bezug auf die Hegemonie zu sagen. Anscheinend kann es sowohl ein kom­plementäres, also ein Verhältnis der Ergänzung sein als auch ein Verhältnis der Konkurrenz. Die meisten Menschen, die sich als Christen bezeichnen, huldigen am Sonntag Gott und im Alltag dem Mammon. Nicht die Kirchen sind die realen Tempel der Gesellschaft, sondern die „Konsumtempel“, z. B. Autohäuser oder Edelboutiquen. Aber Konsum kann niemals offen die Religion ersetzen. Das wäre gegen die Interessen der hegemonialen Klasse, denn ihre Vorherrschaft über die subalternen Klassen beruht auch auf Täu­schung und Selbsttäuschung. Also wird mit einer schmucken Fassade, in der auch die Religion ihren Platz hat, die ganze Widersprüchlichkeit dieser Gesellschaft verhüllt.

 

Nun zur wichtigeren Frage: wie wird Hegemonie durch die Beeinflussung des Konsums ausgeübt? Als erstes ist der grundsätzlich zwiespältige Charakter der Ware zu nennen. Eine Ware ist einerseits (meist) ein Ding, das wegen seines Gebrauchswert gekauft wird, andererseits stecken in der Ware soziale Beziehungen bzw. gesellschaftliche Verhältnisse, ohne die eine Produktion dieser Ware gar nicht hätte erfolgen können. Diese sozia­len Beziehungen sind jedoch beim Verkauf nicht sichtbar. Auf den Märkten nimmt „das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen ... die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen an“ (Karl Marx, Das Kapital, Band 1, S.86).

 

In den letzten Jahren oder Jahrzehnten wurden die sozialen Verhältnisse, die in einer Ware verborgen sind, stärker hinterfragt, vor allem unter dem Stichwort „fair trade“, also im Hinblick auf die Bedingungen der Herstel­lung in Ländern mit niedrigem Lohnniveau. Dabei wird kritisiert, dass westliche Konzerne die prekären Lebensverhältnisse in diesen Ländern ausnutzen, um dort Güter für den Massenkonsum bei uns billig und mit hohem Profit produzieren zu lassen. Die Informationspolitik der Konzerne macht es den Konsumenten hier sehr schwer, genaue und verlässliche In­formationen über die Produktionsbedingungen, z. B. von Jeans in Bangla­desch, zu erfahren und auf dieser Basis eine überlegte Kaufentscheidung zu treffen.

 

Jedoch sind nur sehr wenige Konsumenten in diesem Sinne aktiv, denn die meisten Verbraucher wollen sich damit gar nicht befassen. Sie sind von der Werbung dazu erzogen worden, bestimmte Marken chic zu finden, weil sie das Image dieser Marke anspricht, ihnen ein besseres Lebensgefühl ver­spricht oder ihren sozialen Status augenfällig präsentiert. Dieses Status­denken spielt bei Konsumentscheidungen eine herausragende Rolle, oft noch mehr als Überlegungen zum Preis-Leistungs-Verhältnis, zur Haltbar­keit und zur Reparaturfreundlichkeit von Produkten.

 

Wie können nun unbedarfte Konsumenten zum Zweck der Hegemonie ausgenutzt werden? Die Unternehmen sind bemüht, Lohnabhängige, die ein Produkt kaufen, in einen Interessengegensatz zu bringen zu anderen Lohnabhängigen, die dieses Produkt hergestellt haben oder die es verkau­fen. Die einen wollen angeblich nur niedrige Preise („Geiz ist geil!“), die anderen hohe Löhne und gute Arbeitsbedingungen. Daraus resultiert eine Schwächung der politisch-ökonomischen Stellung der Lohnarbeiter insge­samt. In den letzten zwanzig Jahren wurden Schritt für Schritt die Laden­öffnungszeiten erweitert, und es gab eine breite Debatte darüber. Bei dem Kampf für die Beibehaltung eines (weitgehend) einkaufsfreien Sonntags wurden die Gewerkschaften von den Kirchen unterstützt, die sich hier aus Eigeninteresse gegen die Unternehmen stellten.

 

Der Staat geht beim Konsum mit den dominierenden Unternehmen kon­form. Er zeigt wenig Interesse, den kritischen Konsum zu fördern. Die finanziellen Mittel zur Unterstützung der Verbraucherberatungen sind lächerlich gering. Die per Gesetz festgelegten Informationspflichten der Unternehmen sind völlig unzureichend, ihre praktische Einforderung durch Konsumenten ist oft sehr schwierig.

 

Wenn der politische Wille da wäre, könnte man jedoch einiges zugunsten der Verbraucher ändern, z. B. die meist suggestive Werbung einschränken. Es wäre möglich, per Gesetz eine Steuer auf Werbung zu erheben oder Ausgaben für Werbung nur beschränkt als Betriebsausgaben - und damit steuermindernd - anzuerkennen. Das wäre keineswegs systemsprengend, würde aber die Bedingungen des Konsums stark verändern. Deshalb wäre mit massiven Reaktionen der Unternehmen, vor allem der Werbewirtschaft, zu rechnen. Diese beschäftigt unübersehbar viele Experten (Psychologen etc.), die nur daran arbeiten, wie Konsumenten mit allen möglichen Tricks zum Kauf bestimmter Produkte oder Marken überredet werden können.

 

Diese Praktiken machen aus dem Verbraucher das genaue Gegenteil des in der Wirtschaftstheorie oft bemühten „homo oeconomicus“, der ausschließ­lich rational an Kaufentscheidungen herangeht und der sich alle nötigen In­formationen leicht beschaffen kann. Politiker reden lieber von dem „mün­digen Bürger“, der über seinen Konsum frei entscheidet. Beides sind ideo­logische Konstrukte, die sich nur minimal mit der Realität decken.

 

Einkaufsgenossenschaften von Verbrauchergemeinschaften haben in der Arbeiterbewegung eine wichtige Rolle gespielt. Sie sorgten für erschwing­liche Preise bei den Gütern des täglichen Bedarfs. Das reduzierte ein Stück weit die Hegemonie der bürgerlichen Klasse, vor allem weil der Kleinhan­del umgangen wurde. Mit dem Zerfall der traditionellen Arbeitermilieus und dem Anstieg der Löhne in den 1960er Jahren in Westdeutschland gab es einen Niedergang dieser Genossenschaften, man denke nur an den Coop-Skandal. Die Umweltschutzbewegung sorgte für ein Revival des Genossen­schaftsgedankens. Man gründete z. B. Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaf­ten, die sich praktisch für eine gesunde Ernährung auf umweltschonender Grundlage einsetzten bzw. es noch heute tun.

 

Durch die Umweltschutzbewegung sind neue Marktsegmente entstanden, in denen auch einige neue Firmen dauerhaft überlebt haben. Aber oft haben die großen Unternehmen ihr Angebot erweitert, um auch vom Öko- oder Biotrend zu profitieren. Insgesamt hat sich in Deutschland eine stabile Vor­herrschaft der großen Handelsketten einschließlich der Discounter über den Markt an Konsumgütern etabliert, also ein klassisches Oligopol. Damit ist auch die Gewichtung der Hegemonie innerhalb der kapitalistischen Klasse angesprochen, speziell das Machtverhältnis zwischen Industriekapital und Handelskapital (siehe auch die Papiere zum „Walmartismus“).

 

Die Auswirkungen des Konsums in den fortgeschrittenen Industriestaaten auf die Umwelt ist in zahlreichen Veröffentlichungen analysiert worden. Die katastrophalen Perspektiven der Beibehaltung und Ausweitung des westlichen Konsummodells stellt Niko Paech in seinem neuen Buch „Be­freiung vom Überfluss“ (2012 oekom Verlag München) dar. Er fordert ein Wirtschaftssystem, das ohne Wachstum auskommt (Postwachstumsökono­mie), den Konsum auf das Nötigste reduziert und dadurch zu einer wirkli­chen Nachhaltigkeit in der Benutzung von Umweltgütern kommt. Er ent­larvt das „Konzept einer auf klugen Innovationen beruhenden Vereinbar­keit von Umweltschutz und permanenter ökonomischer Expansion“ (S. 72), wie es z. B. die „Grünen“ vertreten, als eine gefährliche Illusion.

 

Dabei nimmt Paech vor allem die Konsumenten in die Pflicht. „Per se nachhaltige Technologien und Objekte sind schlicht undenkbar. Allein Lebensstile können nachhaltig sein. Nur die Summe der ökologischen Wirkungen aller von einem Subjekt ausgeübten Aktivitäten lässt Rück­schlüsse auf dessen Nachhaltigkeitsperformance zu. Folglich können Nach­haltigkeitswirkungen ausschließlich auf Basis individueller Ökobilanzen dargestellt werden.“ (S. 99)

 

Leider spricht Paech Aspekte von Macht oder Hegemonie überhaupt nicht an, obwohl die von ihm geforderten Veränderungen weitreichende Kon­sequenzen für die Produktpolitik von Unternehmen, ihre Stellung am Markt und ihren Einfluss auf die Konsumenten mit sich bringen würden. Sein Konzept für eine Postwachstumspolitik enthält z. B. „Geld- und Finanz­marktreformen“, die „systemimmanente Wachstumszwänge mildern“ (S. 134) und eine Bodenreform, bei der „private Investoren nicht Eigentümer, sondern nur Pächter der Ressource werden“ (S. 136). Das kann von klas­senbewussten Konzernvorständen doch nur als Kampfansage und als Auf­ruf zu ihrer Entmachtung angesehen werden. Also ist eine wirkliche Post­wachstumsökonomie ohne Überwindung der kapitalistischen Hegemonie nicht erreichbar.

 

Im Gegensatz zu Paech beschäftigen sich andere Kritiker des bestehenden Wirtschafts- und Konsumsystems auch mit Fragen der Hegemonie. Ulrich Schachtschneider und Frank Adler stellen in ihrem Buch „Green New Deal, Suffizienz oder Ökosozialismus? Konzepte für gesellschaftliche Wege aus der Ökokrise“ (oekom Verlag München 2010) unter anderem Ansätze der fundamentalen Systemkritik vor. Diese reichen von den Vertretern eines Ökosozialismus (Saral Sarkar, Bruno Kern) über die radikale Wertkritik (Robert Kurz) bis zu Forderungen nach radikalem Abbau von Herrschaft und zum Aufbau einer egalitären Gesellschaft (Ulrich Brand und andere).

 

Alle diese radikalen Konzepte werden zur Zeit nur von kleinen Gruppie­rungen vertreten. Nötig waren aber Massenbewegungen, die für eine Ab­kehr von dem etablierten Wirtschafts- und Konsumsystem eintreten und auch durch ihr praktisches Handeln erkennen lassen, dass sie sich an dem Ziel einer nachhaltigen und gerechten Gesellschaft orientieren. Für Paech ist das anscheinend eine unabdingbare Voraussetzung, um überhaupt poli­tische Wirkungen zu erzielen: „Keine demokratisch gewählte Regierung eilt einem gesellschaftlichen Wandel voraus, sondern immer nur hinterher, um kein Risiko einzugehen. Folglich können wir uns die Folgen des not­wendigen Wandels nicht länger vom Hals halten, indem wir sie bequem an die Politik oder Technik delegieren. Politische Entscheidungsträger werden sich erst zu einer Postwachstumspolitik ermutigt fühlen, wenn sie hinrei­chend glaubwürdige Signale für die Bereitschaft und Fähigkeit der Gesell­schaft empfangen, diesen Wandel auch auszuhalten.“ (S. 140)