von Helmut Rehbock

1. Einleitung

Es gibt viele aussagekräftige Texte zur Analyse der kapitalistischen Ökono­mie, aber es gibt einen Mangel an ausreichenden Erklärungen für den Bestand bürgerlicher Herrschaft. Denn diese Herrschaft dient der Durchsetzung der Interessen einer Minderheit von Kapitaleignern und ihrem Anhang in Politik und Zivilgesellschaft. Sie steht also im fundamentalen Widerspruch zu den Interessen der Mehrheit der Bevölkerung. Wie schafft eine Minderheit es, von der Mehrheit einen Konsens oder zumindest die passive Duldung ihrer Füh­rerschaft in der Gesellschaft zu erlangen?

 

Repression einerseits und mediale Beeinflussung bzw. Propaganda anderer­seits sind als Erklärungen nicht ausreichend. Linke Politik, die allein darauf aufbaut, greift in der Analyse zu kurz und muss in ihrer Praxis scheitern. Hier kann das Konzept der Hegemonie nach Gramsci einen umfassenderen Ansatz bieten.

Dieser Text soll skizzieren, welche Möglichkeiten der Gesellschaftsanalyse die Anwendung des Hegemonie-Konzepts bietet. Dazu werden einige ausge­wählte Themen angesprochen. Notwendig wären weitere Untersuchungen bzw. die Auswertung vorhandener Texte unter dem Blickwinkel der Hege­monie-Analyse. Damit könnten die Chancen für eine Schwächung von Hege­monie und für eine Stärkung linker Gegenmacht genauer bestimmt werden.

2. Begriff der Hegemonie

Hegemonie meint nach Antonio Gramsci politische Führung und geistig-kulturelle Führerschaft einer Klasse oder sozialen Gruppe gegenüber anderen Klassen. Hegemonie schließt zwar Zwang und Repression ein, aber die hegemoniale Klasse erfüllt auch Bedürfnisse und Anliegen der subalternen Klassen. Sie integriert sie aber in ihr Programm zur ökonomischen und sozialen Entwicklung der gesamten Gesellschaft. Dazu ein Text von Gramsci aus seinen „Gefängnisheften“ (Heft 13, § 37, S. 1610):

 „Die ‚normale’ Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Felde des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich in verschiedener Weise die Waage halten, ohne dass der Zwang zu sehr gegenüber dem Konsens überwiegt, son­dern im Gegenteil sogar versucht wird, zu erreichen, dass der Zwang auf den Konsens der Mehrheit gestützt scheint, wie er von den sogenannten Organen der öffentlichen Meinung – Zeitungen und Verbände – ausgedrückt wird, die deshalb in gewissen Situationen künstlich vervielfacht werden.“

 Für Gramsci ist Hegemonie mehr als nur die ideologische Beeinflussung der „subalternen Klassen“ durch die Herrschenden, sondern sie schließt auch materielle, ökonomische Zugeständnisse an diese Klassen ein.

„Die Tatsache der Hegemonie setzt zweifellos voraus, dass den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, dass sich ein gewisses Gleichgewicht des Kompromisses herausbildet, dass also die führende Gruppe Opfer korpo­rativ-ökonomischer Art bringt, aber es besteht auch kein Zweifel, dass solche Opfer und ein solcher Kompromiss nicht das Wesentliche betreffen können, denn wenn die Hegemonie politisch-ethisch ist, dann kann sie nicht umhin, auch ökonomisch zu sein, kann nicht umhin, ihre materielle Grundlage in den entscheidenden Funktionen zu haben, welche die führende Gruppe im ent­scheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivität ausübt.“ (Heft 13, § 8, S. 1567)

Gramscis Hegemonie-Begriff kann nach Ulrich Schreiber so verstanden werden:

„Der Hegemoniebegriff wurde in der Arbeiterbewegung zunächst von der russischen Sozialdemokratie gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Rahmen ihrer Revolutionstheorie verwendet und später von der Komintern inter­nationalisiert. Bei Gramsci bedeutet er im revolutionstheoretischen Kontext die Theorie und Praxis einer Klasse, die - frei von korporativen Elementen - sich am Fortschritt der gesamten Nation orientiert und die Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit zu ihrem Programm und ihrer Weltanschauung errun­gen hat. Hegemonie ist insofern immer an die Ökonomie gebunden, als die Durchsetzbarkeit politischer Programme vor allem von den Möglichkeiten abhängt, die mit dem jeweiligen Stand der materiellen und geistigen Produk­tivkräfte gegeben sind.

(...)

Im staatstheoretischen Kontext bedeutet Hegemonie die politisch durchge­setzte hegemoniale Rolle einer Klasse. Über den Staat wird das hegemoniale Programm verwirklicht. Die Führungsfunktion der Klasse wird nun auch eine des Staates.“ (Schreiber S. 131)

3. Klasse als problematischer Begriff

Da der Hegemonie-Begriff auf dem Konzept einer in Klassen gespaltenen Ge­sellschaft aufbaut, muss auch der Klassenbegriff als sinnvoll und praktikabel begründet werden. Gegen die Verwendung des Klassenbegriffs werden oft Einwände erhoben, vor allem wegen des Scheiterns der revolutionären euro­päischen Arbeiterbewegung. Die Integration der Sozialdemokratie (vor allem der deutschen) in das System bürgerlicher Herrschaft und die Unterordnung der europäischen kommunistischen Parteien unter die Staatsinteressen der Sowjetunion mittels der Komintern haben bewirkt, dass das Konzept einer revolutionären Arbeiterklasse als unrealistisch diskreditiert wurde. An der politischen Praxis aller angeblich sozialistischen Staaten, von der verschwun­denen DDR bis zu China und Kuba lässt sich zeigen, dass dort nicht die Mas­se der Lohnabhängigen zur führenden Klasse in Staat und Gesellschaft gewor­den ist.

Andererseits bleibt nach wie vor in den entwickelten kapitalistischen Gesell zwischen den Kapitaleignern und den mittel bis gering verdienenden Lohnab­hängigen ein ökonomischer Interessengegensatz bestehen, der aufgrund der neoliberalen Wirtschaftspolitik in den letzten Jahrzehnten wieder schärfer her­vorgetreten ist. Der Prozess der Kapitalakkumulation ist immer noch der do­minierende Vorgang in den modernen Gesellschaften. In ihm gibt es Akteure und Profiteure auf der einen sowie Objekte und Opfer auf der anderen Seite. Das kann man als Basis einer ökonomisch fundierten Analyse der sozialen Verhältnisse benutzen.

So kommt Hanns Wienold zu einer sehr detaillierten Beschreibung der kapita­listischen Klasse in Deutschland (Wienold 2010). In Bezug auf diese Klasse kann man von einer relativen Übereinstimmung der ökonomischen Interessen und ihrer politischen Artikulation reden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass innerhalb der Klasse sehr unterschiedliche wirtschaftliche Verhältnisse vorlie­gen und deshalb auch gegensätzliche Interessen auftreten können.

Bei den lohnabhängig Beschäftigten liegt eine starke Differenzierung bei Ein­kommen, Bildung, Herkunft, Religion und sonstiger kultureller Prägung vor. Die spezifischen Arbeitermilieus, wie sie im späten 19. und frühen 20. Jahr­hundert in Europa bestanden, gibt es nicht mehr. Im ganzen gibt es bei den Lohnabhängigen – im Vergleich zu den Unternehmern – eine ungleich stär­kere Heterogenität der politischen Artikulation, selbst bei ökonomisch ähn­licher Interessenlage. Damit hat sich Marx’ Annahme nicht bestätigt, dass mit fortschreitender Entwicklung des Kapitalismus auch die politische und orga­nisatorische Einigung der Arbeiter vorankommt und sich dadurch auch die Chance für eine Überwindung des Kapitalismus erhöht. 

4. Staatsauffassung

Trotz dieser Einschränkung beim Klassenbegriff kann das Hegemonie-Kon­zept von Gramsci verwendet und weiter entwickelt werden. Dazu gehört auch eine genauere Bestimmung des Staates. Wie schon oben angedeutet, war in der linken revolutionären Bewegung die Funktion des Staates oft auf Repres­sion und Propaganda reduziert worden, vor allem bei Lenin und der Komin­tern. Nach Gramsci ist der Staat zwar die Institution, in der sich die geschicht­liche Einheit der führenden Klassen vollzieht, diese Einheit ist jedoch „in ih­rer Konkretheit das Ergebnis der organischen Beziehungen zwischen dem Staat oder politischer Gesellschaft und ‚Zivilgesellschaft’.“ (Heft 25, § 5, S. 2195) In dieser Zivilgesellschaft sind auch die Interessen der „subalternen Klassen“ wirksam, z.B. in der Form von Vereinen, Parteien oder Gewerk­schaften.

Nach Nicos Poulantzas bezieht der Staat seine Macht aus den Klassen, die ihn bestimmen. „Er ist die materielle und spezifische Verdichtung eines Kräfte­verhältnisses zwischen den Klassen und Klassenfraktionen.“ (Poulantzas S.119) „Er repräsentiert und organisiert die herrschende oder die herrschen­den Klassen, er organisiert also das langfristige politische Interesse des Blocks an der Macht, der sich aus den verschiedenen Fraktionen der bürgerlichen Klasse zusammen setzt ... „ (Poulantzas S. 117)

Dabei reproduziert der Staat die Widersprüche zwischen den Klassenfrak­tionen in seinem Inneren. „Der Staat selbst ist gespalten. (...) Die Klassen­widersprüche konstituieren den Staat: Sie liegen in seinem materiellen Gerüst und bauen so seine Organisation auf: Die Politik des Staates ist die Auswir­kung ihrer Funktionsweise im Innern des Staates.“ (Poulantzas S.123)

Der Staat ist jedoch nicht nur ein Produkt der sozialen Kämpfe, sondern er greift auch aktiv in die Organisation der Gesellschaft ein. Sein Rechtssystem ist die unerlässliche Grundlage für Produktion und Handel, also auch für die Regelung des Verhältnisses zwischen Arbeitern und Kapitalisten. Über die Institutionen von Erziehung und Bildung reproduziert und modifiziert er die Arbeitsteilung innerhalb der Gesellschaft. Der Staat erhält die soziale Un­gleichheit in den Klassenbeziehungen, verbindet sie aber mit der rechtlichen und politischen Gleichheit aller Bürger als Staatsbürger. In ihrer Gesamtheit bilden sie eine Nation.

„So erscheint auch die moderne Nation als ein Produkt des Staates, denn die konstitutiven Elemente der Nation (ökonomische Einheit, Territorium und Tradition) werden durch das direkte Eingreifen des Staates in die materielle Organisation von Raum und Zeit modifiziert.“ (Poulantzas S.91)

5. Nationalismus und Volksgemeinschaft

Das Gemeinsame aller Bürger eines Staates besteht darin, dass sie alle ein und derselben Staatsgewalt unterworfen sind. Vor allem dadurch bilden sie eine Nation. Die herrschende Klasse benutzt weitere Gemeinsamkeiten wie Spra­che, Religion und Traditionen, um ein klassenübergreifendes Wir-Gefühl zu erzeugen, also ein Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit. Ein National­gefühl lässt sich zum Nationalstolz und zum Nationalismus steigern. Nationa­lismus wird unterschiedlich definiert. Man kann darunter die Ansicht verste­hen, dass die eigene Nation etwas Besonderes sei, aber auch die Überzeu­gung, dass sie anderen Nationen überlegen sei.

Nationalistische Einstellungen können auf unterschiedlichen sozialpsycholo­gischen Ursachen beruhen. Ein wichtiger Aspekt ist das Bedürfnis nach Auf­wertung der eigenen Person, wie es durch die Zuordnung zu einem „großen Ganzen“, also der nationalen Gemeinschaft, oder durch die Identifikation mit allgemein anerkannten Persönlichkeiten als Symbolen dieser Gemeinschaft erfüllt werden kann. Das können Persönlichkeiten aus Kultur und Geschichte sein, aber auch Pop-Stars oder Profi-Sportler, auf die man „stolz sein“ kann. Auch wenn das Gemeinsame weniger auf realer Übereinstimmung und mehr auf Fiktion beruht, kann es dem Individuum ein Gefühl von Stärke und von Harmonie mit seiner sozialen Umwelt geben. Dabei kann eine „verinnerlichte Angst vor sozialer Isolation“ (Brückner S. 147) eine Rolle spielen.

Von einem nationalen Wir-Gefühl ausgehend kann ein ausgrenzender und aggressiver Nationalismus erzeugt werden. Dieses Geschäft betreiben unter anderem populistische Politiker wie Thilo Sarrazin und rechtsradikale Par­teien. Als Konsequenz entsteht Hass gegen andere Völker und gegen Migran­ten, die dann als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Auch alteinge­sessene Minderheiten können ausgegrenzt und als Fremdkörper in der Volks­gemeinschaft definiert werden, z.B. die Juden im Nationalsozialismus. Diese Minderheiten müssen als Sündenböcke für soziale Missstände herhalten, um von den eigentlichen Ursachen abzulenken.

Herrschaftsverhältnisse lassen bei den Beherrschten Aggressionen entstehen, die sich gegen die Herrschenden wenden könnten. Jedoch gelingt es diesen oft, solche Aggressionen gegen Außenseiter und stigmatisierte Minderheiten umzulenken. „Auch die Kanalisierung von Feindseligkeit gegen »böse Objek­te«, Juden, Fremdarbeiter usw., führt – vorübergehend – zu einer Minderung zwischenmenschlicher Konflikte und die Mitglieder der Mehrheit rücken ein­ander näher ...“ (Brückner S. 141). Den irregeleiteten Beherrschten bringt das kurzfristig eine Entlastung von Aggressionen und eine Erhöhung des Selbst­wertgefühls. Gerade Verlierer und soziale Absteiger in dieser Gesellschaft sind daher anfällig für rechtsradikale Verhetzung. Gegen psychische Verbie­gungen und emotional verwurzelte Vorurteile ist eine belehrende Aufklärung oft wirkungslos.

Die Reisefreiheit, die globalen Handelsbeziehungen und die Etablierung supranationaler Gemeinschaften wie die der Europäischen Union sind deshalb keine Absicherungen gegen den Nationalismus. Denn er hängt letztendlich ab vom Zustand der einzelnen nationalen Gesellschaften. Zusätzlich kann der Nationalismus von den aktuellen Interessen und Politiken der jeweiligen herr­schenden Klasse gefördert werden, z.B. zur Zeit durch das Dominanzstreben der deutschen Regierung innerhalb der EU.

Das Thema der Nation ist ein Beispiel dafür, wie die bürgerliche Hegemonie für ihre Zwecke verschiedene Machttechniken einsetzt: man führt das zusam­men, was interessenmäßig nicht zusammen gehört und man erzeugt Spaltun­gen und Konflikte zwischen Gruppen, die sich von ihren Interessen her solidarisieren könnten.

6. Hegemonie in der Zivilgesellschaft

Die bürgerliche Klasse übt ihre Hegemonie nicht nur im ökonomischen und staatlichen Bereich aus, sondern auch in allen anderen relevanten Bereichen der Gesellschaft, also in dem, was Gramsci als Zivilgesellschaft bezeichnet. Dazu gehören Gesundheitswesen, Erziehung, Ausbildung, Wissenschaften, Religion, Alltagskultur, Sport, Literatur, Musik und Kunst. Die Organisatoren oder aktive Träger der bürgerlichen Hegemonie in all diesen Bereichen wer­den als Intellektuelle im weiteren Sinne verstanden. Gramsci zählt dazu auch Priester, Rechtsanwälte, Lehrer, Notare und Ärzte (Heft 4, § 49, S. 516).

„Gramsci folgend bestimmen wir Intellektuelle nicht bloß als ‚Geistesarbei­ter’ (Wissenschaftler, Journalisten, Literaten etc.), sondern allgemeiner durch ihre Funktion, Kollektive zu konstituieren, zu orientieren und Verhaltens- und Lebensweisen zu organisieren. Der Intellektuellenbegriff dient dazu, asymme­trische Macht/Wissens-Verhältnisse, Verhältnisse von Führern und Geführten (nicht nur im engen Sinne politischer Führung) zu thematisieren. Die schein­bare Anonymität der Diskursformationen wird auf diese Weise in Netze intel­lektueller Akteure aufgelöst, die die Alltagspraxis bestimmen.“ (Krebs/Sablowski S. 117)

7. Religion und Klassenherrschaft

Auch die Repräsentanten und Funktionäre der Kirchen und anderer Religions­gemeinschaften kann man als derartige intellektuelle Akteure betrachten. Ihre Funktion innerhalb der bürgerlichen Hegemonie wird im Folgenden exempla­risch aufgezeigt. Religionen versprechen, „mit Dimensionen des menschli­chen Lebens fertig zu werden, die sich der Alltagskontrolle entziehen und so­mit die Intervention übermenschlicher Mächte erfordern.“ Sie ermöglichen es, „die Ohnmachtserfahrung kognitiv, moralisch und emotional in die Möglich­keit einer zumindest indirekten Beherrschbarkeit solcher Krisen umzudeuten oder Gefahr und Leiden in den Zusammenhang eines umfassenderen Heils­planes zu stellen und somit als bedeutungsvoll, beabsichtigt oder verdient zu verstehen.“ (Riesebrodt S. 45)

Der leidende Mensch erhält in der Leidensgeschichte Christi eine Würdigung und Anerkennung, jedoch in einem bestimmten Kontext. In diesem Kontext werden Leiden und gewaltsamer Tod durch Auferstehung und ein Leben in einem besseren Jenseits aufgehoben und nicht durch das diesseitige Projekt einer sozialen Revolution. Als das Christentum Staatsreligion wurde, gingen seine Repräsentanten ein Bündnis mit den Herrschenden (römische Kaiser, mittelalterliche Fürsten) ein. Nur von Minderheiten wurde die Zukunftsvision eines Reichs Gottes auf Erden, die in einigen Bibeltexten angesprochen wird, als Leitlinie für eine alternative Gesellschaftsordnung verstanden und als Orientierung für revolutionäres politisches Handeln. Thomas Müntzer steht für diese Strömung, Martin Luther dagegen für die Unterordnung der Kirche unter die Staatsgewalt.

Das Bündnis zwischen Thron und Altar war für den europäischen Adel eine Stütze seiner politischen Herrschaft, auch als im 18. und 19. Jahrhundert das Bürgertum immer einflussreicher wurde. Dieses schloss sich in vielen euro­päischen Staaten diesem Bündnis an, auch in Deutschland nach dem Scheitern der 1848er Revolution. In der Folge war die deutsche Arbeiterbewegung in weiten Bereichen anti-klerikal orientiert. August Bebel, SPD-Vorsitzender bis 1913, schrieb in seiner Broschüre „Christentum und Sozialismus“:

„Der Fortschritt der Menschheit bedingt, dass allem Vorrecht und aller Herr­schaft der Krieg erklärt wird; die Kirche übt eine nicht geringere Herrschaft über das Volk aus als der Staat. Auf der Autorität und dem blinden Glauben beruhend, muss sie alles bekämpfen, was diese zu untergraben trachtet, also das Wissen und die Bildung, wie sie der Sozialismus erstrebt.“ (Bebel S. 56)

Bebel kämpfte für eine vollständige Trennung von Kirche und Staat. Er trat dafür ein, die Einflussnahme der Kirchen auf das Schulwesen zu beenden, besonders nach einer demokratischen Umgestaltung der Gesellschaft. Dazu schreibt er an anderer Stelle:

„Die Erziehung muss aber alsdann ausschließlich Staatssache sein, sie muss den höchsten Ansprüchen genügen, und es darf kein Zögling von Staats oder Gemeinde wegen in religiösen Dingen Unterricht genießen. ... Gibt der Staat nicht bloß die Freiheit der Gewissen zu, was er soll und muss, sondern auch die Freiheit der Erziehung, wie dies in Nordamerika der Fall ist, so ist die not­wendige Folge, dass die Kirche sich der Erziehung bemächtigt und ihren un­heilvollen Einfluss ausübt, wie sich das tatsächlich in den Vereinigten Staaten herausgestellt hat.“ (Bebel S. 81)

Bebels Aussage über die USA ist auch im 21. Jahrhundert noch aktuell. Besonders die zunehmende Einflussnahme von anti-aufklärerischen, fundamentalistischen Strömungen ist nicht zu übersehen.

„Das von den Fundamentalisten in einigen Staaten nahezu vollständig beherrschte Bildungssystem umfasst inzwischen nicht nur Elementarschulen und Kindergärten, sondern auch eigene Colleges, Forschungsinstitute und ... auch einige Universitäten.“ (Uesseler S.116)

„Die von den Fundamentalisten in den USA in vielen staatlichen Schulen aufgeputschte Situation hat nicht nur die Unterrichtsinhalte beeinflusst und ‚bereinigt’, sondern hemmt die Einführung innovativer Lehrmodelle und Lehrmethoden.“ (Uesseler S. 119)

Die Situation in Deutschland ist nicht so katastrophal, aber auch bedenklich. Viele Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser haben kirchliche Träger, der Bundespräsident ist ein ehemaliger Pfarrer, die Kanzlerin ist die Tochter eines Pfarrers, und aus Deutschland kommt auch der derzeitige Papst. Joseph Rat­zinger (Papst Benedikt XVI) schafft es durch seinen geschickten Umgang mit den Medien, seine ultra-konservativen Ansichten über Moral und Gesellschaft als nonkonformistisches Aufbegehren gegen den neoliberalen Zeitgeist posi­tiv in Szene zu setzen.

 „Ratzinger will seine Kirche als dissidente, gegenstrebige Kraft in der Gegen­wart verankern, als weltlose Macht, für Menschen, die voll Verachtung sind für die Niedrigkeiten der Realwelt mit ihrem bürgerlichen Mittelmaß und ihrer Jagd nach dem äußeren Erfolg, ihren Händler- und Krämernaturen.“ (Misik S. 52)

Die kirchliche Kritik an der kapitalistischen Praxis ist so angelegt, dass sie nichts Wesentliches verändern kann. Als eine Art Sicherheitsventil gegen zu hohen sozialen Druck kanalisiert sie Unzufriedenheit, die durch Ausbeutung und Benachteiligung entsteht. Deshalb wird sie von Unternehmern und Regie­rung wohlwollend toleriert. Radikale antikapitalistische Strömungen haben in den Kirchen keine Chance; dafür sorgen auch die Politiker, die Mitglieder in wichtigen Kirchengremien sind. Z. B. ist der erfahrene CSU-Politiker Alois Glück seit 2009 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), der Spitzenorganisation der katholischen Laien.

Religion kann den Herrschenden auch als Spaltungsinstrument dienen. Diese Rolle nahmen z.B. die christlichen Gewerkschaften im Deutschland des 19. Jahrhunderts ein, in anderen Ländern (z.B. Italien) gibt es sie immer noch. Heute gibt es Bestrebungen, den religiösen Gegensatz von Christentum und Islam in einen politischen Gegensatz von freiheitlicher Demokratie und auto­ritärem Fanatismus umzudeuten. Dabei wird oft die Tatsache ausgeblendet, dass die meisten Moslems in Europa nicht für einen Gottesstaat im Sinne des Koran eintreten und ebenso die Tatsache, dass die bürgerliche Demokratie eher nicht mit dem Segen der Kirchen erkämpft wurde, sondern meistens ge­gen ihren Widerstand. Das gilt besonders für die katholische Kirche, die kriti­sche Schriften der bürgerlichen Aufklärung auf den Index der verbotenen Bü­cher setzte und ihre Verfasser verleumdete und verfolgte. Wenn man also gegen den islamischen Fundamentalismus Stellung bezieht, darf auch der christliche Fundamentalismus nicht verharmlost werden, denn auch er ver­sucht, vorhandene Rechte und Freiheiten einzuschränken oder zu beseitigen, z.B. das Recht auf Geburtenkontrolle.

Religion wird im Kapitalismus als Element bürgerlicher Hegemonie benutzt. Dagegen muss linke Politik vorgehen, vor allem durch eine strikte und voll­ständige Trennung von Kirche und Staat und durch die Abschaffung aller Sonderrechte der Kirchen (z.B. im Arbeitsrecht). Damit würde man gesell­schaftliche Machtpositionen von Religionsgemeinschaften abbauen, aber dabei die Religionsfreiheit – also die Freiheit, religiöse Überzeugungen zu vertreten, – nicht einschränken.

8. Dissens, Widerstand, Gegen-Hegemonie

Hegemonie muss in der kapitalistischen Gesellschaft immer wieder neu hergestellt werden, denn die wirtschaftliche Dynamik verändert ständig die Lebensumstände der Individuen. Das wirkt sich auch auf die Bestandteile des gesellschaftlichen Konsenses zwischen Herrschenden und Beherrschten aus. Zum anderen kann der Wunsch nach dem guten Leben bewirken, dass Unzu­friedenheit mit den bestehenden Verhältnissen empfunden wird, dass Dissens und Kritik artikuliert werden. Über politische Institutionen (z.B. Parteien, Parlamente) und über Massenmedien kann Kritik verstärkt, vervielfältigt, abgeschwächt oder kanalisiert werden.

So kann sich organisierter Widerstand entwickeln, der punktuell oder in größerem Umfang gegen die bestehende Hegemonie gerichtet ist. Die Klassenfraktionen, die ökonomisch und politisch dominieren, müssen darauf reagieren, unter Umständen mit Veränderungen ihrer Hegemoniekonzepte. So hat z.B. der massenhafte und lang andauernde Widerstand gegen den Bau und Betrieb von Atomkraftwerken in Deutschland dazu geführt, dass die Energie­politik neu bestimmt werden musste und dass sich neue ökonomische Verhält­nisse in diesem Bereich entwickelt haben. Unter dem Einfluss der Anti-AKW-Bewegung hatten sich Ansätze einer Gegen-Hegemonie entwickelt, die immer mehr Rückhalt in der Gesellschaft fanden. Diese Ansätze wurden von der herrschenden Klasse zunächst im Ganzen bekämpft. Als es nicht gelang, die Anti-AKW-Bewegung gesellschaftlich auszugrenzen, wurde versucht, Teile ihrer Anliegen aufzunehmen und in ein neues Hegemoniekonzept zu integrieren, um so dem Widerstand die Spitze zu nehmen.

Zur Gegen-Hegemonie äußert sich Ulrich Brand im Zusammenhang mit den Perspektiven der globalisierungskritischen Bewegungen:

„Ein Hegemonieverständnis im Sinne Gramscis impliziert, dass alternative Strategien, d.h. »gegen-hegemoniale« Projekte zwar innerhalb der Zivilgesell­schaft entstehen können, aber nie durch die Zivilgesellschaft als Ganzes. ... Gegen-Hegemonie bildet sich also zunächst und notwendig in kleinen Berei­chen der Zivilgesellschaft heraus, nicht in deren mächtigsten Apparaten. Komplexe Herrschaftsverhältnisse müssen dementsprechend auf ähnliche vielschichtige Weise infrage gestellt werden.“ (Brand S. 10)

9. Literatur

  • August Bebel, „Die moderne Kultur ist eine antichristliche ...“ Ausgewählte Reden und Schriften zur Religionskritik. Herausgegeben von Heiner Jestrabek Alibri Verlag Aschaffenburg 2007.
  • Ulrich Brand, Gegen-Hegemonie. Perspektiven globalisierungskritischer Stra­tegien, VSA-Verlag Hamburg 2005.
  • Peter Brückner, Sozialpsychologie des Kapitalismus, Neuauflage der Ausgabe von 1981 (Rowohlt) als Gemeinschaftsausgabe von Psychosozial-Verlag (Gießen) und Argument-Verlag (Hamburg) 2004.
  • Antonio Gramsci, Gefängnishefte : kritische Gesamtausgabe. Auf Grundlage der von Valentino Gerratana im Auftrag des Gramsci-Instituts besorgten Edi­tion hrsg. vom Deutschen Gramsci-Projekt unter der wiss. Leitung von Klaus Bochmann, Hamburg Argument-Verlag, 1991 ff.
  • Hans-Peter Krebs/Thomas Sablowski, Ökonomie als soziale Regulierung, in: Alex Demirovic/ Hans-Peter Krebs/Thomas Sablowski (Hrsg.), Hegemonie und Staat. Kapitalistische Regulation als Projekt und Prozess, Verlag Westfälisches Dampfboot Münster 1992.
  • Robert Misik, Gott behüte! Warum wir die Religion aus der Politik heraushalten müssen, Ueberreuter Verlag Wien 2008.
  • Nicos Poulantzas, Staatstheorie : Politischer Überbau, Ideologie, sozialisti­sche Demokratie. VSA-Verlag Hamburg, 1978. - 248 S., neu aufgelegt 2002.
  • Martin Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“, Verlag C.H.Beck München 2000.
  • Ulrich Schreiber, Die politische Theorie Antonio Gramscis, Argument-Verlag, Berlin 1982 (Argument-Studienhefte; SH 55).
  • Manfred Uesseler, Der Fundamentalismus in den USA und das Bildungs­wesen, in: Margarete Jäger und Jürgen Link (Hg.), Macht – Religion – Politik. Zur Renaissance religiöser Praktiken und Mentalitäten, UNRAST Verlag Münster 2006.
  • Hanns Wienold, Die Gegenwart der Bourgeoisie. Umrisse einer Klasse, in: Hans-Günther Thien (Hrsg.), Klassen im Postfordismus, Verlag Westfälisches Dampfboot Münster 2010.