(Lieber G., ich vermute, du bist mit den meisten Thesen einverstanden, hast vieles auch in deinem Vortrag angedeutet, ich möchte es hier aber noch einmal scharf untereinander setzen. Beste Grüße, H.).

 

  1. Angesichts der Debatte um die sogenannte „Überforderung“ des „normalen“ Menschen hinsichtlich der Komplexität und Schmerzhaftigkeit zu treffender politischer Entscheidung, die demokratische Willensbildung negiert, ist festzuhalten, dass allgemeines Stimmrecht, Versammlungs- und Meinungsfreiheit, Pressefreiheit usw. Ergebnis der sozialen Kämpfe gewesen ist und durch nichts auf’s Spiel gesetzt werden dürfen. Demokratie als allgemeine Demokratie ist nicht das Verdienst der bürgerlichen Gesellschaft, sondern ihrer Gegner: der unterdrückten und von demokratischer Willensbildung ausgegrenzten Personen (Arbeiter, Frauen, Sozialhilfeempfänger usw.).
    Trotzdem gibt es auch in der Linken eine lange Tradition des Zweifels an der unmittelbaren Umsetzbarkeit von Demokratie: von Lenin, der zuerst der russischen Bevölkerung lesen und schreiben beibringen wollte, bevor er sie der Demokratie fähig ansah, von John Stuart Mill, der Vernünftigkeit zur Voraussetzung von Demokratie definierte oder von Herbert Marcuse, der angesichts einer gleichgeschalteten Pressen, einer nahezu allgegenwärtigen Kulturindustrie und einer umfassenden Werbung bezweifelte, dass die bürgerliche Gesellschaft noch die Voraussetzungen einer Demokratie, d.h. die Freiheit eines autonomen Individuums, erfüllte. Ohne Reflektion auf diese logische Voraussetzung von Demokratie ist Demokratie nicht möglich und bleibt Kritik an „demokratisch“ oder undemokratisch gefällten Prozessen marginalisiert, weil sie den Propaganda-Apparaten der bürgerlichen Gesellschaft hoffnungslos unterlegen ist. Folgt man den durchaus vernünftigen Überlegungen von Herbert Marcuse in seiner Kritik der reinen Toleranz, dann misst sich die Moralität linker Intervention an der Bedeutsamkeit des Themas und dem Ausmaß der gesellschaftlichen Kontrolle: Konflikte um Stuttgart 21 sind nicht gleichzusetzen wie solche um AKWs und um Austeritätspolitik gegenüber Griechenland, weil die Konsequenzen der Umsetzung dieser Projekte andere sind. Andererseits ist die Anwendung von Gewalt gegen Personen in demokratischen Ländern auch in zugespitzter historischer Situation nicht legitimierbar.
  2. Die Diskussion um Demokratie ist einerseits sicherlich ein normativer Prozess, andererseits aber auch ein genuin historisch-materialistisches Unterfangen. Rätedemokratie war in dem Moment ein legitimes Modell der Arbeiterbewegung, wo der geschichtliche Prozess die Konzentration und Zentralisierung der Arbeitsprozesse an bestimmte Orte der Gesellschaft zu implizieren zu schien. Mit dem Wegfall der „großen Industrie“ als zentralem Vergesellschaftungsort sind solche Modelle obsolet. An ihre Stelle treten nicht wie in der linksalternativen Szene unterstellt lokale Gemeinschaften, kommunitaristische Projekte u.ä., weil die Entwicklung der globalen Produktion lokale Bezüge im wachsenden Maße zersetzt. Die scheinbare Erfahrung des wohnenden Bezugs auf eine Stadt und einen Stadtteil widerspricht der Nomadenhaftigkeit von Ausbildung (Bachelorstudium drei Jahre mit Unterbrechung um Auslandsstudium in einer Stadt, Masterstudium in der nächsten, Promotionsstelle in der übernächsten usw.) und der Neuorganisation vieler Arbeitsprozesse, die nur noch begrenzt am selben geografischen Ort erfolgen. Um mit Hardt & Negri zu sprechen, bildet der gemeinsame Ort, die spontane Versammlung unterschiedlicher Identitäten unterschiedlicher Nationalitäten, den Ausgangspunkt von Demokratie genauso wie der gemeinsame virtuelle Ort im Internet.
  3. Das aktuelle Akkumulationsregime gefährdet die Demokratie in den demokratischen Ländern, insofern als immer mehr Lebenszeit zu Lebensarbeitszeit umgewandelt wird. Im echten Sinne demokratisch können sich 2013ff vermutlich nur noch Rentner verhalten, weil nur ihnen eine gewisse freie Zeit als Voraussetzung zur demokratischen Willensbildung bleibt.
  4. Die damit ausgedrückte Dominanz der Arbeitsteilung, d.h. des historischen Stands der gesellschaftlichen Produktion, war immer schon ein Problem der Demokratie als wesentlichem Bestandteil eines humanitären Gesellschaftsmodells. Denn die kapitalistische Produktion war von Beginn an internationalistisch (wie auch die erzwungene Lenkung der Arbeitskräfte durch Sklavenhandel oder Hungersnöte in Irland), die politische Entscheidungen aber nationalistisch. Über das Prinzip des Freihandels mit Getreide wurde im 18. Jhdt in England entschieden, die Opfer waren indische Bauern, die an diesen Entscheidungen nicht beteiligt waren. Heute entscheidet das deutsche Parlament über „Griechenlandhilfe“, die griechische Bevölkerung wird über die Folgen der Hilfe nur insofern einbezogen, als keine Alternative angeboten wird. Es ist kein Zufall, dass die Parole „Vaterlandsverräter“ die SPD zur Zustimmung zu den Kriegskrediten bewegt hat und diese Zustimmung war demokratisch legitimiert. Der Fordismus funktionierte demokratisch, weil in nationale sozialstaatliche Entscheidung internationale Konsequenzen in Lateinamerika z.B. nicht einbezogen wurden. Und den parlamentarischen Entscheidungsträgern ist noch nicht mal der Vorwurf zu machen, dass sie unmoralisch entschieden hätten, da ihnen die Folgen ihrer Entscheidung unmittelbar gar nicht sichtbar werden konnten.
  5. Selbst eine demokratische Weltgesellschaft würde an diesem Problem nicht einfach vorbei kommen: demokratische Entscheidungen dieser Gesellschaft hätten sich vor den Interessen zukünftig lebender Generationen und der Rechte der Natur zu legitimieren. Diese wären aber nicht unmittelbar direkt, weil erst in der Zukunft zu erfahren. Auch hier gibt es also einen Ausgangspunkt für notwendig falsches Bewusstsein, wenn auch im anderen Sinne als dem Marxschen.
  6. Insofern impliziert ein linker Begriff von Demokratie eine starke Rahmung aller politischen Entscheidungen durch den Begriff von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit gemäß inhaltlicher Rechte an Commons für alle Generationen und für eine Ko Evolution mit der Natur. Darüber ist nicht demokratisch zu entscheiden.
  7. Die Marxsche Utopie soweit ich sie verstehe bedeutet genau diese Rückbeziehung der Demokratie auf die gesellschaftliche Produktionsweise. In einem Zustand des Mangels bedeutet Demokratie in der Regel eine Verwaltung von Mangel und meistens eine nur minimale Beteiligung unterdrückter Schichten an dem gesellschaftlichen Reichtum – gerade soviel wie nötig ist, um diese von der dauerhaften Rebellion abzuhalten bzw. um sie in den Arbeitsprozess zu integrieren. In einem Zustand der Aufhebung des Mangels bedarf es aller demokratischen Rechte, kaum aber noch der Beteiligung an Politik, weil die freie Entfaltung des Individuums garantiert und durch diese nicht mehr gesetzt wird. Und nach wie vor ist der Straßenverkehr nicht das schlechteste Beispiel dafür, weil er die freie Entfaltung des Individuums bei einer klaren Rahmung der Pflichten impliziert. Und erst im Zustand des Mangels, z.B. beim Stau, kommt es zu einer gegenseitigen Beeinträchtigung oder einem Nullsummenspiel mit Gewinnern und Verlieren. Solange dieser Mangel nicht herrscht, interessiert mich die politische Verwaltung der Straßen wenig, höchstens eben, dass wenn ich mich von A nach B bewege, ich anderen Menschen, späteren Generationen und der Natur nicht oder möglichst wenig schaden möchte.