Buchbesprechung der Originalausgabe 2018

Vortrag und Diskussion am Sonntag, 27. November 2022, ab 11 Uhr in der Donnerschweerstraße 55

Im ersten Teil haben wir uns mit dem theoretischen Modell von Fraser beschäftigt: Fraser lehnt „die Ansicht des primären (Anm.: Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit) und sekundären Widerspruchs nachdrücklich“ ab. „Der ganze Witz der Aufdeckung zusätzlicher ‚verborgener Stätten‘, die über diejenigen hinausgehen, auf die sich Marx konzentrierte, besteht darin zu zeigen, dass die Formen der Unterdrückung, die sie beinhalten (Unterordnung von Geschlechtern und Rassen, Imperialismus und politische Herrschaft, ökologischer Raubbau) integrierte Strukturmerkmale der kapitalistischen Gesellschaft sind – die ebenso tief verankert sind wie Ausbeutung und Klassenherrschaft.“ 

 Es ist festzuhalten, „dass die ausschließliche Konzentration auf Ausbeutung und Produktion arbeitende Menschen beliebiger Hautfarbe oder beliebigen Geschlechts nicht emanzipieren kann; es ist außerdem notwendig, auf die Enteignung und die Reproduktion abzuzielen, mit der die Ausbeutung und Produktion auf jeden Fall verknüpft sind [...] Das bedeutet sowohl die Überwindung von Ausbeutung und Enteignung als auch die der Trennung zwischen Produktion und Reproduktion durch die Abschaffung des umfassenderen Systems, das ihre Symbiose hervorbringt.“

Ungeklärt blieb dabei noch das Verhältnis von struktureller gesellschaftlicher Analyse und den politischen Blöcken, die Nancy Fraser in ihrem Kraftverhältnis als Hegemonie bildend unterstellt.

Im zweiten Teil wollen wir uns mit dem politischen Modell von Fraser beschäftigen: Aktuell wird häufig argumentiert, dass die Linke die ‚soziale Frage‘ aufgegeben hat und jetzt zu ihr zurückkehren sollte. Fraser schreibt dazu: „Sicherlich gibt es keine Rückkehr zur Klassenpolitik alten Stils. [...] Die Krise des finanzialisierten Kapitalismus hat ebenso viel mit Ökologie, Demokratie und sozialer Reproduktion zu tun wie mit der Organisation bezahlter Arbeit. Diese Dinge müssen im Zentrum jeder linksgerichteten Politik stehen [...] Ich würde mich auch auf die Erweiterung dessen konzentrieren, was wir mit ‚Arbeiterschicht‘ meinen [...] nicht nur Fabrikarbeiter [...], sondern auch Hausangestellte, Arbeiter im öffentlichen und Dienstleistungssektor, unter Einschluss von Frauen, Immigranten und Farbigen – nicht nur die Ausgebeuteten, sondern auch die Enteigneten und die Opfer von Zwangsräumungen [...] Das ist die Alternative zum progressiven Moralismus, die ich vertrete – Rassismus und Sexismus nicht als eine Frage des ‚Überbaus‘ abzutun, sondern darauf zu bestehen, dass sie strukturell und tief mit der Klassen- (und Geschlechter-)Herrschaft verflochten sind, dass sie sich unter Absehung von letzterer weder verstehen noch überwinden lassen.“

Als wahrscheinlichster Kandidat für die Konstruktion eines gegenhegemonialen Blocks scheint Fraser „irgendeine neue Variante des progressiven Populismus zu sein, eine, die ein egalitäres arbeiterschichtfreundliches Verteilungsprogramm mit einer inklusiven, nicht-hierarchischen Vision einer Ordnung gerechter Anerkennung – oder, wie ich zuvor sagte, Emanzipation plus Sozialschutz – verknüpft.“

Vor diesem Hintergrund soll es auch darum gehen, die ganz aktuelle Situation von Inflation, Einkommensverlusten, imperialen Kriegen und drohender Klimakatastrophe in ihr Modell einzuordnen und dabei die Reflektion und Beantwortung dieser Situation durch linke Gruppierungen zu diskutieren.